Nach der Bombenexplosion in der türkischen Hauptstadt spricht Präsident Gül von “Terror“. Ankara betreibt derzeit eine offensive Außenpolitik.

Hamburg/Istanbul. Den türkischen Präsidenten Abdullah Gül erreichte die Nachricht von einer Bombenexplosion in Ankara, als ihm sein deutscher Amtskollege Christian Wulff gerade in heiterer Stimmung seine Heimatstadt Osnabrück zeigte. Bestürzt sprach Gül von "Terror gegen die Zivilbevölkerung", den er "auf das Schärfste" verurteile, und sprach den Opfern sein Mitgefühl aus.

Nach Berichten türkischer Medien ereignete sich die Explosion im Regierungsviertel Cankaya der türkischen Hauptstadt und ließ in weitem Umkreis Fensterscheiben zersplittern. Über der Stadt stand eine schwarze Rauchsäule. Ein geparkter, mit Autogas betriebener Kleinbus war auf der Kumrular-Straße unweit der Metrostation Kizilay detoniert; die Wucht der Explosion hatte andere Fahrzeuge brennend durch die Luft gewirbelt. Etliche Läden in der Straße wurden vollständig zerstört. In dem Inferno starben drei Menschen, 34 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Das Gebiet wurde weiträumig evakuiert. Innenminister Idris Naim Sahin sagte, ein Terroranschlag sei sehr wahrscheinlich. Ein Frau wurde am Tatort festgenommen, die "Lang lebe unser Kampf" gerufen hatte. In der Türkei haben sowohl rechts- wie linksgerichtete Gruppen immer wieder Anschläge verübt. Auch die verbotene kurdische Partei PKK kommt als Täter in Betracht.

Der Anschlag in Ankara fällt in eine politisch sehr angespannte Atmosphäre , ausgelöst durch eine äußerst offensive türkische Außenpolitik. Da ist zum einen der schwelende Konflikt mit Israel, der bislang in der Ausweisung des israelischen Botschafters aus der Türkei sowie in militärischen Drohungen von Regierungschef Recep Tayyip Erdogan gipfelte. Gestern zog Jerusalem angesichts der krisenhaften Entwicklung seinen Polizeiattaché aus der Türkei ab. Im Mai 2010 hatten sich israelische Soldaten der Eliteeinheit Shayetet 13 - sie entspricht etwa den amerikanischen Navy-SEALs, die Osama Bin Laden töteten - von Hubschraubern auf das Deck des türkischen Schiffes "Mavi Marmara" im Mittelmeer abgeseilt.

Güls kuriose Ansichten

Eine türkische Flottille aus Hilfsschiffen wollte das israelische Embargo gegenüber Gaza durchbrechen. Israel will mit dieser Blockade verhindern, dass Raketen und Sprengstoff auf dem Seeweg an die radikalislamische und israelfeindliche Hamas geliefert werden, die den Gazastreifen beherrscht. Sie hat in den vergangenen Jahren mehr als 10 000 Raketen und Granaten auf israelische Städte abgefeuert. Diese Seeblockade gilt bei den meisten Völkerrechtlern als durchaus legales Instrument. Israel hat demnach auch das Recht, diese Blockade militärisch zu verteidigen.

Als türkische Staatsbürger die israelischen Soldaten an Bord der "Mavi Marmara" mit improvisierten Waffen angriffen, einige niederschlugen und mit Messern bedrohten, erschoss Shayetet 13 neun Menschen - acht Türken und einen Amerikaner türkischer Abstammung. Der Vorfall sorgte für eine Welle der Empörung in der Türkei.

Ein Uno-Bericht hatte den israelischen Angriff auf die Gaza-Flottille Ende August "legal" genannt, allerdings die "exzessive und unverhältnismäßige Gewalt" der israelischen Soldaten gerügt. Erdogan hatte daraufhin Israels Botschafter hinausgeworfen und erklärt, der Vorfall sei eigentlich ein Anlass für einen Krieg mit Israel gewesen. Er drohte damit, die nächste Gaza-Hilfsflottille von türkischen Kriegsschiffen begleiten zu lassen.

Vor Ausbruch dieser Krise hatten die Türkei und Israel auch militärisch sehr enge Beziehungen gepflegt. Erdogan steht im Verdacht, er habe den Konflikt mit Israel absichtlich eskalieren lassen, um seine Position in der arabischen Welt zu stärken und eine türkische Hegemonie in der Region zu installieren. Sein Außenminister Ahmet Davutoglu hat inzwischen eine "Achse der Macht" mit Ägypten angeregt, unter anderem, um Israel strategisch zu isolieren.

Gestern sollte Erdogan mit US-Präsident Barack Obama in der Uno in New York zusammentreffen. Die "New York Times" schrieb, zwar pflege Obama ein so enges Verhältnis zu dem türkischen Premier wie zu kaum einem anderen internationalen Politiker. Doch Erdogans verbale Muskelspiele bereiten Obama zunehmend Sorgen. Besonders besorgt sei das Weiße Haus über Erdogans Drohung, türkische Kriegsschiffe die nächste Gaza-Flottille sichern zu lassen - dies könne leicht in eine "tödliche Konfrontation" münden. Die "New York Times" zitierte Robert Danin, Mitglied des einflussreichen "Rates für Auswärtige Beziehungen" in Washington, mit den Worten: "Erdogans Handlungen, vor allem aber seine Rhetorik, sorgen für eine Menge Ängste."

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich in ihrem Gespräch mit Gül in Berlin alarmiert über die Krise zwischen Ankara und Jerusalem.

Als wäre dies nicht besorgniserregend genug, hat Erdogan inzwischen noch eine zweite Krisenfront in der Mittelmeerregion aufgebaut und auch dort mit Militär gedroht. Die US-Firma Noble Energy hat im Auftrag der zyprischen Regierung in Nikosia Probebohrungen südlich von Zypern im Mittelmeer aufgenommen. Das Gebiet "Block 12" gehört zum Levente-Becken, in dem viel Öl sowie rund 3,5 Billionen Kubikmeter Erdgas vermutet werden.

Die Türkei erkennt die (ethnisch weitgehend griechische) Republik Zypern, die seit 2004 EU-Mitglied ist, völkerrechtlich allerdings nicht an. Hintergrund: 1974 hatten türkische Truppen nach einem Putsch der Zypern-Griechen den Nordteil der Insel besetzt. Die Türkei rief dort eine eigene Türkische Republik Zypern aus, die weltweit aber nur von Ankara anerkannt wird.

Das ungelöste Zypern-Problem ist eines der Haupthindernisse bezüglich eines türkischen EU-Beitritts. Erdogan ist vehement gegen eine Ausbeutung der Bodenschätze durch Zypern, solange das Dauerproblem nicht gelöst und genaue Seegrenzen festgelegt worden seien. Der türkische Premier hat damit gedroht, die Beziehungen zur EU einzufrieren - es droht eine Eiszeit mit Brüssel. Zudem kündigte er an, das umstrittene Seegebiet mit Militärflugzeugen und Torpedobooten überwachen zu lassen. Er wolle notfalls türkische Kriegsschiffe einsetzen, um die Bohrungen zu unterbinden. EU-Minister Egemen Bagis sagte der türkischen Zeitung "Zaman": "Das ist es, wofür wir die Marine haben. Wir haben unsere Soldaten dafür trainiert; wir haben die Marine dafür ausgerüstet. Alle Optionen sind auf dem Tisch, alles kann passieren."

Zusätzlich brisant ist in dieser Situation, dass an den Probebohrungen vor Zypern mit der Delek Group auch eine israelische Firma beteiligt ist.