Englands Beamte wurden auf Verständnis für die Minderheiten trainiert. Den sozialen Sprengstoff entschärfte das jedoch nicht.

London. Die Aufarbeitung der Gewaltausbrüche in englischen Städten Anfang vergangener Woche beschäftigt die britischen Verantwortlichen weiterhin als die überragende nationale Priorität schlechthin. Premierminister David Cameron trug in einer Rede in seinem Wahlkreis in Oxfordshire seine Entschlossenheit vor, die "zerbrochene Gesellschaft" - ein Terminus, den er bereits vor fünf Jahren prägte - "an die Spitze meiner Agenda" zu stellen. Allzu lange habe die Politik nicht deutlich genug davon gesprochen, was Recht und was Unrecht sei. Mit solcher "moralischen Neutralität" sei es jetzt aber vorbei. Seine Regierung werde sich auf drei Kernaspekte der Malaise konzentrieren, sagte Cameron: unsoziales Verhalten, mangelnde elterliche Obhut und fehlende Disziplin in zu vielen Schulen.

Diese Reaktion bezeichnete der Chef der Labour-Opposition, Ed Miliband, als "Effekthascherei" und "reflexartiges Reden". Miliband erneuerte stattdessen seine Forderung nach einer Kommission, die sich mit Ursachen und Folgen der Krise zu beschäftigen und Vorschläge zur Heilung auszuarbeiten habe. Es wird immer deutlicher, dass die Parteien jenseits der Gemeinsamkeit, die sie angesichts der hoch schäumenden Anarchie zunächst gezeigt hatten, inzwischen nach Differenzen suchen, um das demokratische Spiel von Regierung und Opposition wieder in Gang zu setzen.

Unter allen Gruppen mit Verantwortung für die Sicherheit der Bürger steht die Polizei, namentlich die Londoner Metropolitan Police, umgangssprachlich Scotland Yard genannt, vor einer besonders schwierigen Aufgabe. Der Anblick von Polizisten, die in den ersten Tagen der Gewaltausbrüche weitgehend hilflos den Plünderungen und Brandstiftungen zusahen, hat die Öffentlichkeit tief beunruhigt. Bohrende Fragen werden jetzt gestellt, was denn die Sicherheitskräfte des Landes behindert habe und ob sie kräftemäßig, aber vor allem mental gerüstet sind, solchen Eruptionen der Gesetzlosigkeit künftig gegenüberzutreten.

Die kurze Antwort darauf ist eine negative: Alles sprach in den ersten Tagen des Gewaltausbruchs gegen eine angemessene und effiziente polizeiliche Reaktion. Die britischen Ordnungshüter stecken seit Längerem in einer Krise des Selbstverständnisses und Selbstvertrauens; sie sind ihrer eigenen Mission ungewiss. Das beginnt schon mit der linguistischen Bezeichnung des Berufsstandes: Haben wir es mit einer Police Force oder mit einem Police Service zu tun? Der Unterschied ist wesentlich, da im ersten Fall die Betonung auf demonstrierter Macht und Durchsetzungsfähigkeit liegt - bis hin zur Anwendung von Gegengewalt -, im zweiten auf sozialer Verträglichkeit, also auf erwiesener Rücksicht im Umgang mit Unruhestiftern.

Die britische Polizei ist seit mehr als 20 Jahren in letzteren Tugenden geschult worden. "Force", gar hoheitliche Gewalt, gilt überhaupt als verpönt. Vielmehr hat ein weicher Angang die Oberhand gewonnen, das behutsame Eingehen auf ethnische Minderheiten. Nach den Gewaltszenen des Jahres 1981 in London/Brixton und Liverpool/Toxteth hatte ein Untersuchungsausschuss unter Lord Scarman gefolgert, die Reaktionskultur der Polizei insgesamt müsse reformiert werden. Scarman rief zum Beispiel nach neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen Polizei und gefährdeten "Communities". Das führte dazu, dass der Polizist in entsprechenden Konfliktgebieten mehr den Typus des "Sozialmanagers" als den des "Leaders" einer respektierten Ordnungsmacht hervorkehrte.

Wie wenig das zur Krisenverhütung beitrug, berichtete am Wochenende Peter Powers, ein Berater der Regierung in Fragen des Konfliktmanagements. Wer unter den Jugendlichen partout auf Diebstahl, Raub und Bandenaktivität aus sei, so führte Power aus, nehme selbstverständlich nie an den Gesprächen mit der Polizei zur Entschärfung sozialer Brandsätze teil. Es träfen sich letztlich meist nur Enthusiasten des Friedens, typische Repräsentanten wie christliche Leitfiguren oder verschiedene Vertreter sozialer Verpflichtungen. Wie diese Zusammensetzungen künftigen Gewaltausbrüchen vorbeugen sollten, ist niemandem so recht deutlich.

Im Jahr 1999 hatte der Kommissionsbericht von Sir William Macpherson die Hintergründe eines ungesühnten Mordes an einem Farbigen offengelegt, mit dem strengsten aller möglichen Vorwürfe: In der Londoner Polizei herrsche so etwas wie "institutioneller Rassismus". Man las den Bericht vor allem als Parteinahme für die "Opfer der Polizei", die Rechte aktueller und potenzieller Täter standen deutlich im Vordergrund. Entsprechend waren damals die Vorschläge zur Anwendung von polizeilicher Gewalt im Umgang mit Ordnungsstörungen ausgefallen.

Zu den Regeln, die seitdem gelten, gehört auch, dass Gefangennahmen von zwei Beamten vorgenommen werden müssen, die einen Albtraum erleben allein mit der Dauer der anschließenden bürokratischen Dokumentation. Sollten die Indizien der Gefangennahme sich nachträglich als "ungenügend" herausstellen, müssen die betroffenen Polizisten obendrein mit disziplinarischen Maßnahmen rechnen. Das hat die schon vorhandenen hemmenden Mechanismen weiter verstärkt. Ein zu hartes Vorgehen gegen die Chaoten der letzten Woche hätte nur wieder den Vorwurf deplatzierter Härte auf den Plan gerufen, von der Political Correctness befördert, die in der Polizei gerne eine Bedrohung der Freiheit sieht.

Unbesetzt, wie ihre Spitzen zu Beginn der Ausschreitungen waren (wegen Versäumnissen im Murdoch-Skandal hatte es Rücktritte gegeben), und gelähmt in ihrem Willen zum Durchgreifen, war das Debakel der Polizei unvermeidlich. "Wir baten um ein Signal von unseren höheren Stellen, ob wir auch auf die Gefahr, dass Demonstranten verletzt werden könnten, eingreifen dürften - aber es kam nicht", beklagte sich ein Polizist. "Stattdessen die Order, Stellung zu beziehen und auszuharren."