Soziale Bewegung erhält immer mehr Zulauf. Premierminister Netanjahu reagiert auf den Druck der Straße und lässt die Forderungen prüfen
Tel Aviv. Wer gedacht hatte, die soziale Protestbewegung würde in ihrer dritten Woche an Wucht verlieren, sah sich am Sonnabendabend eines Besseren belehrt. Etwa 250 000 Menschen füllten in einer der größten Kundgebungen in der Geschichte des Staates die Straßen von Tel Aviv. Andernorts demonstrierten weitere 50 000 für mehr soziale Gerechtigkeit. In fast allen israelischen Städten gibt es mittlerweile Protest-Zeltlager, und bei der Regierung in Jerusalem setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass sich diese Proteste nicht aussitzen lassen.
Was als verzweifelter Aufschrei gegen die in den vergangenen Jahren rasant gestiegenen Immobilienpreise und Mieten begann, ist zu einer wirtschaftspolitischen Revolte geworden. In der vergangenen Woche hatten die Anführer der Proteste erstmals eine Liste mit ihren detaillierten Forderungen veröffentlicht: kostenlose Kinderbetreuung für Kinder, die älter als drei Monate sind, wurde da gefordert, die Mehrwertsteuer solle von heute 16 auf nur fünf Prozent gesenkt werden, die Regierung müsse in öffentlichen Wohnungsbau investieren, alle Forderungen der Ärztegewerkschaft müssten erfüllt werden, mehr medizinisches Personal und mehr Lehrer sollen eingestellt und die Klassengröße an den Schulen von heute 38 auf 23 verringert werden.
Alle diese und weitere Forderungen würden sich durch erhöhte Einnahmen selbst finanzieren, hatten die Autoren behauptet. Doch als israelische Medien die Zahlen von Ökonomen überprüfen ließen, wurde klar, dass sich eine beachtliche Finanzierungslücke auftat: Die Wirtschaftsbeilage der liberalen Tageszeitung "Haaretz" kam zu dem Schluss, dass in der Berechnung nicht nur die Einnahmen über-, sondern auch die Kosten unterschätzt wurden und eine Umsetzung der Forderungen in Wahrheit ein Loch von 40 Milliarden Schekel (acht Milliarden Euro) in den Haushalt reißen würden.
Die Unzufriedenheit eines großen Teils der Mittelklasse ist aber durchaus verständlich. Die Lebenshaltungskosten in Israel sind sehr hoch, die Gehälter hingegen vergleichsweise niedrig. Im nationalen Durchschnitt sind die Immobilienpreise in den vergangenen vier Jahren um mehr als 35 Prozent gestiegen, in Tel Aviv muss man heute schon für eine Zwei-Zimmer-Wohnung um die 1000 Euro Miete zahlen. Dabei geht es der israelischen Wirtschaft gut. Israel ist ein Hightech-Land und eines der weltweit wichtigsten Zentren für Softwareentwicklung, das Wirtschaftswachstum liegt schon seit einigen Jahren bei mehr als vier Prozent jährlich.
Allerdings ist die Kluft zwischen Arm und Reich ausgerechnet im einst so egalitären Israel so hoch wie nur in wenigen anderen westlichen Ländern. In ihrem Jahresbericht für das Jahr 2009 stellte die Nationalbank fest, dass gerade einmal rund 20 Familien mehr als 50 Prozent der im Aktienindex TA-100 vertretenen Firmen kontrollieren. Die reichsten 500 Israelis besitzen ein Vermögen, das einem Drittel der jährlichen Wirtschaftsleistung entspricht, wenige Firmen besitzen einen bedenklich großen Marktanteil. Ausgerechnet die Mittelschicht aber, auf deren Schultern diese wirtschaftliche Erfolgsgeschichte ruht, hat das Gefühl, von dem wachsenden Wohlstand nichts abzubekommen. Ein Grund dafür ist, dass die israelische Mittelschicht nicht besonders groß ist: Offiziell herrscht im Land derzeit die niedrigste Arbeitslosigkeit seit mehr als 30 Jahren - allerdings bemüht sich ein Großteil der orthodoxen und arabischen Bevölkerung gar nicht um Arbeit und taucht in der Statistik deshalb nicht auf. In Wahrheit sind dann nicht 5,8 Prozent der Israelis ohne Arbeit, sondern fast 19 Prozent.
Entsprechend hoch ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger. Hinzu kommt, dass die Regierung alljährlich Unsummen an die Siedlerlobby fließen ließ, die Autobahnen im Westjordanland sind oft in einem besseren Zustand als jene im israelischen Kernland. Dennoch werden in der Protestbewegung erst jetzt Stimmen laut, die auch diese grundlegenden Probleme ansprechen. "Wir sind eine große Familie, und dies ist kein politischer Protest", versichert Dafni Leef, jene junge Filmemacherin, die als Erste vor drei Wochen ihr Zelt auf dem schicken Rothschild-Boulevard in Tel Aviv aufschlug, am Tag nach der bisher größten Kundgebung der Bewegung. Auch eine neue Liste mit Forderungen soll weder die Siedler noch die Orthodoxen namentlich erwähnen - um niemanden zu verärgern.
Kritiker fürchten, dass es in der nun von Ministerpräsident Netanjahu einberufenen Expertenkommission ähnlich zugehen wird. Neben Ministern aus dem Kabinett sollen dort unabhängige Wirtschaftswissenschaftler Vorschläge zur Senkung der Lebenshaltungskosten und Immobilienpreise machen. Es soll beraten werden, wie die Mittelklasse entlastet und die Macht von Monopolfirmen und Kartellen eingeschränkt werden kann. "Wir werden allen zuhören", versprach Netanjahu während der Kabinettssitzung gestern. Er warnte allerdings auch, man werde es nicht allen recht machen können. In nur einem Monat sollen die Vorschläge der Kommission öffentlich gemacht werden. Ohne eine "grundlegende Änderung unserer Prioritäten" seien die Probleme nicht zu lösen, sagt Netanjahu.
"Netanjahu, hör uns zu. Wir sind das Salz der Erde. Wir wollen Veränderungen", sagte der Vorsitzende der Studentenunion, Itzik Schmueli, vor Kundgebungsteilnehmern in Tel Aviv. "Aber wir brauchen keine Veränderung der gewählten Koalition. Wir, die Jugend, verlangen eine Veränderung des grausamen ökonomischen Systems", fügte Schmueli unter tosendem Beifall hinzu. In Anspielung auf die erfolgreiche Protestbewegung im Nachbarland führten Demonstranten Plakate mit der Aufschrift "Marschiert wie die Ägypter" mit. "Das Volk will soziale Gerechtigkeit", skandierten die Menschen in Sprechchören. Finanzminister Juval Steinitz äußerte Verständnis für die Proteste. "Dies ist ein beeindruckendes Phänomen, und wir müssen ihnen (den Demonstranten) zuhören", sagte er dem israelischen Rundfunk. "Wir müssen Lösungen finden, aber wir müssen auch aufpassen, dass wir den finanziellen Rahmen nicht sprengen und unsere Errungenschaften nicht gefährden."
Die politische Agenda in Israel wird durch die Massenproteste gehörig durcheinandergewirbelt, bislang standen darauf die Themen Sicherheit und Krieg an erster Stelle. Der Dauerkonflikt mit den Palästinensern rückt in den Hintergrund.