Nach dem Ansturm Hunderter Palästinenser an der israelischen Grenze zu Syrien verschärft sich der Konflikt in der Region

Hamburg/Jerusalem. Einen Tag nach dem Sturm Hunderter Palästinenser auf die israelische Grenze auf den Golanhöhen war Israels Armee gestern in erhöhter Alarmbereitschaft. Am "Naksa-Tag" hatten die Palästinenser versucht, die umstrittene Grenzlinie zu überschreiten. Israelische Soldaten hatten das Feuer eröffnet; nach Angaben des syrischen Gesundheitsministers Wael al-Halki wurden 23 Menschen getötet, darunter eine Frau und ein zwölfjähriger Junge, 350 weitere Menschen wurden verletzt.

Das arabische Wort "Naksa" bedeutet "Rückschlag" - der Tag soll an die Eroberung des Westjordanlandes, des Gazastreifens, Ost-Jerusalems und der Golanhöhen durch israelische Truppen im Sechstagekrieg 1967 erinnern. Die Golanhöhen, ein strategisch bedeutsames Hochplateau, vom dem aus man die Quellen des Jordans kontrollieren und Nordisrael mit Artillerie beschießen kann, wurde 1981 von Israel annektiert. Syrien fordert die Rückgabe; der Streit um die Golanhöhen ist Haupthindernis für eine Friedenslösung zwischen Israel und Syrien.

Israels Regierung beschwerte sich gestern bei den Vereinten Nationen über Syrien. Das Regime von Präsident Baschar al-Assad habe die gewalttätigen Demonstranten ungehindert zur Grenzlinie passieren lassen und nutze die Aktion der Palästinenser, um von den eigenen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken.

Assad lässt seine Armee seit Wochen auf Regimegegner feuern, Hunderte Demonstranten sollen dabei ums Leben gekommen sein. Israels Vize-Außenminister Danny Ajalon warf Assad vor, er setze die Demonstranten als "Kanonenfutter" gegen Israel ein. Doch Israel habe das Recht, seine Souveränität zu verteidigen.

Die israelische Armee wies die syrischen Angaben über die 23 Todesopfer zurück. Sprecherin Oberstleutnant Avital Leibowitsch erklärte, die Demonstranten seien zunächst über Lautsprecher aufgerufen worden, ihre Aktion abzubrechen. Dann habe die Armee Warnschüsse in die Luft abgegeben. Schließlich hätten Scharfschützen auf die Beine der Grenzstürmer gezielt. Einer von denen habe eine Brandflasche geworfen, die Buschwerk in Brand gesetzt habe. Durch das Feuer seien schließlich vier syrische Panzerabwehrminen im Grenzstreifen detoniert. Dabei sollen nach israelischen Angaben zehn Palästinenser getötet worden sein.

Gewarnt durch ähnliche Aktionen am "Nakba-Tag" vor drei Wochen an den Grenzen zum Libanon und zu Syrien, bei denen bis zu 13 palästinensische Grenzverletzer erschossen worden waren, hatte die israelische Armee auf dem Golan Gräben gezogen und Stacheldrahtrollen ausgelegt. Zwei Bataillone bezogen nach Auskunft der Zeitung "Haaretz" Stellung im Drusendorf Majdal Shams, ein weiteres in der 1967 zerstörten Geisterstadt Kuneitra. Auf beide Grenzstellen sollen jeweils rund 300 Palästinenser und einige syrische Sympathisanten zumarschiert sein. Das Wort "Nakba" bedeutet Katastrophe und bezieht sich auf die Vertreibung von rund 700 000 Palästinensern nach Gründung des Staates Israel 1948.

Israel hat ein doppeltes Problem: Die einseitige Annexion der Golanhöhen ist völkerrechtlich nicht anerkannt. Außerdem befürchtet Israel, dass die Palästinenser derartige Aktionen künftig an den Grenzen aller besetzten Gebiete fortsetzen werden. Israels hochgerüstete Armee ist offenbar nicht in der Lage, einen derartigen Ansturm ohne den Einsatz tödlicher Gewalt zu stoppen. Die israelische Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu rechtfertigte den Einsatz von scharfer Munition zwar, ist sich aber darüber im Klaren, dass dies verheerend für das internationale Ansehen Israels ist. Die Armee wisse, dass sie obendrein auch noch einen Medienkrieg führen müsse, schrieb die "Jerusalem Post".

Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) warnte gestern vor einer neuen "Spirale der Gewalt" in Nahost. Die anhaltenden Spannungen bereiteten ihm "größte Sorgen", sagte Westerwelle im Berlin. Die "explosive regionale Lage" zeige, wie wichtig es sei, den Friedensprozess wieder zu beleben.