Mohammed al-Baradei stellt sich in Ägypten der Opposition für einen Machtwechsel zur Verfügung. Demonstrationen gehen trotz Verbots weiter

Hamburg. Der Protest gegen autoritäre Regime im Nahen Osten hat nach Tunesien, Algerien und Ägypten nun auch den Jemen erreicht. In der jemenitischen Hauptstadt Sanaa protestierten mindestens zehntausend Menschen gegen die Politik von Präsident Ali Abdullah Salih und forderten ihn zum Rücktritt auf. Sie skandierten: "König Abdullah - hier ist Ali Abdullah."

Damit spielten sie auf die unrühmliche Flucht des langjährigen tunesischen Machthabers Zine al-Abidine Ben Ali zum saudischen König Abdullah. Saleh regiert das Land seit 32 Jahren. Die Hälfte der jemenitischen Bevölkerung lebt unter der absoluten Armutsgrenze von umgerechnet 1,50 Euro am Tag. Saleh hat als erste Maßnahme den Sold für die ihn stützende Armee erhöhen lassen.

In Ägypten hielten die Proteste gegen das Regime von Staatspräsident Husni Mubarak an, der ebenfalls seit 30 Jahren an der Macht ist. In der Nacht hatten die Sicherheitskräfte die nicht genehmigten Demonstrationen brutal niedergeknüppelt. Der Oppositionspolitiker Mohammed al-Baradei, ehemals Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien, will sich an die Spitze eines politischen Wechsels in Ägypten stellen. Wichtig sei jedoch, dass dieser Wechsel friedlich verlaufe. Al-Baradei kehrte gestern Abend aus Wien nach Kairo zurück, um dort an den für heute geplanten neuen Großdemonstrationen teilzunehmen. Die anhaltenden Proteste haben die Kurse an der Kairoer Börse gestern abstürzen lassen, vorübergehend wurde der Handel vollkommen ausgesetzt.

"Der Begriff Flächenbrand wäre etwas zu hoch gegriffen, doch auf jeden Fall ist der Effekt in der ganzen arabischen Welt zu spüren", sagte Professor Dr. Henner Fürtig, Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien, dem Abendblatt über die Protestwelle. Das an der Alster beheimatete German Institute of Global and Area Studies ist eine der größten Denkfabriken in Deutschland und Europa.

"Das heißt nun aber nicht, dass es in jedem einzelnen Land von Mauretanien bis Irak zu Unruhen kommen muss", betont Fürtig, "aber gerade die Regime, die am meisten zu fürchten haben, nämlich die besonders langlebigen Autokratien, sind jetzt im Fokus. Und da müssen wir auch mit weiteren Unruhen rechnen."

Die Frage nach der Stabilität des Regimes in Ägypten sei auf jeden Fall anders zu veranschlagen als in Tunesien, weil die Armee in Ägypten noch sehr stark mit dem Regime verbunden sei - "und wir dürfen nicht vergessen, dass seit 1952 alle ägyptischen Staatschefs aus der Armee gekommen sind".

Es komme jetzt darauf an, wie stark diese Unruhen zunehmen werden. "Falls sie tatsächlich eine Dimension erreichen sollten, dass wir von täglichen Auseinandersetzungen ausgehen müssen, dass dann nicht nur Kairo, Alexandria und Suez, sondern auch alle anderen ägyptischen Städte wie Ismailija, Assiut, Assuan betroffen sind, dann könnte sich irgendwann das Militär - das sich als Rückgrat des ägyptischen Staates empfindet, dazu berufen fühlen, die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen", sagt der Hamburger Wissenschaftler. "Allerdings haben wir in Ägypten keine Tradition von Militärherrschaften wie früher in Südamerika - man würde wohl rasch wieder versuchen, die Macht wieder in zivile Hände zu geben. Aber das alles ist hochspekulativ."

Die islamistische Muslimbruderschaft sei zwar mit Abstand die stärkste einzelne Oppositionspartei und mit deutlichem Rückhalt in der Bevölkerung - aber sie sei nur eine Stimme unter mehreren. "Seriöse wissenschaftliche Studien der vergangenen beiden Jahre gehen davon aus, dass ihr Potenzial bei freien Wahlen etwa bei 30 Prozent liegt", sagt Professor Fürtig. "Das ist noch lange keine absolute Mehrheit. Die Muslimbruderschaft hält sich auch sehr stark zurück; sie will auf keinen Fall als Urheber dieser Unruhen verstanden werden - das würde es dem Regime zu leicht machen, mit aller Härte und Repression gegen sie vorzugehen."

Eine dynastische Lösung mit Mubaraks Sohn Gamal als Nachfolger werde immer unwahrscheinlicher - "wenn Mubaraks Macht zur Disposition steht, wird sich diese Frage von allein erledigen". Ägyptens Opposition sei durch die jahrzehntelange Repression schwach und zersplittert, "es gibt keine Integrationsfiguren, keine geeigneten Strukturen zur sofortigen Regierungsübernahme." Es werde wohl eine längere Übergangsphase geben, in der noch Kräfte des alten Regimes mitwirken.

Henner Fürtig betont: "Eine lupenreine Demokratie werden wir innerhalb der nächsten Zeit in Ägypten ohnehin nicht zu erwarten haben."