Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti geht ohne die Hilfsorganisationen nichts mehr. Sie sind die eigentliche Macht im Staate: Sie haben das Geld, das Know-how und die Pläne für die Zukunft

Nichts geht mehr auf der Verbindungsstraße von Port-au-Prince nach Leogane. Wieder einmal. Es ist 14 Uhr und der Verkehr staut sich. Busse, Lkw und jede Menge Geländewagen der Hilfsorganisationen stehen still, minutenlang. Es geht nicht nach vorne und nicht zurück. Irgendwann wird es einem der wartenden Europäer zu viel. Der Franzose der Hilfsorganisation Oxfam steigt aus und versucht den Verkehr zu regeln. Und tatsächlich: Nach vier, fünf Minuten Verhandlungen in kreolischer Sprache weichen die ersten Fahrzeuge ein paar Zentimeter zurück. Plötzlich entsteht eine Lücke, eine kleine Gasse und es kommt Bewegung in den Stau. Keine 20 Minuten später hat sich der Verkehrsknoten aufgelöst, die Fahrzeuge passieren das Nadelöhr, bis es irgendwann wieder klemmen wird.

Dann wird wieder Verhandlungsgeschick und guter Wille von allen Beteiligten gefragt sein. Die Szene hat ein Jahr nach dem Erdbeben in Haiti Symbolcharakter. Ohne die Nichtregierungs-Organisationen (NGO) geht nichts mehr in Haiti, das Land ist zu einer NGO-Republik geworden.

Die Tour zwischen Port-au-Prince und Leogane ist auch eine tägliche Reise in die Ohnmacht. Sie zeigt, wie wenig sich seit dem 12. Januar 2010 getan hat, als 45 schreckliche Sekunden den Inselstaat in Schutt und Asche legten. Es ist, als ob die tiefen, meterlangen Risse jenes Schicksalsdatum für immer sichtbar auf der Straße markieren. Die Fahrbahndecke ist aufgebrochen, manchmal liegt ein halber Meter Höhenunterschied zwischen den längs aufgerissenen Straßenteilen. Allen Pendlern wird täglich klar: Bis zur Normalität ist es in Haiti noch eine weite Reise. Nicht nur auf der Verbindungsstraße ist Geduld gefragt, im ganzen Land geht es mit dem Wiederaufbau nur mühsam und oft im Schneckentempo voran.

Allein in der Hauptstadt Port-au-Prince stürzten mehr als 190 000 Gebäude in sich zusammen. Mit 7,0 auf der Richterskala war das Beben bei Weitem nicht das stärkste in der jüngeren Erdgeschichte, mit mehr als 250 000 Toten aber das wohl folgenschwerste. Und es löste eine weltweite Welle der Hilfsbereitschaft und Sympathie aus.

Ein Jahr danach ist die Katastrophe immer noch allgegenwärtig. Schon beim Landeanflug auf Port-au-Prince sind die vielen Hundert Zeltlager zu erkennen, die sich wie ein Flickenteppich über die ganze Stadt ziehen. Aus dem Provisorium ist längst ein Dauerzustand geworden. Mehr als 1,3 Millionen Menschen, so rechnen die unzähligen Hilfsorganisationen vor, leben seit der schrecklichen Katastrophe unter einem Zeltdach. Es sind nicht wirklich weniger geworden im vergangenen Jahr. Eigentlich müssten die Menschen längst raus aus den Lagern. Die heiße Karibiksonne brennt unermüdlich auf die Plastikplanen und irgendwann wird sich der Kunststoff auflösen und keinen Schutz mehr bieten vor der prallen Sonne. Doch es fehlt an Unterkünften, zudem sorgen die Hilfsorganisationen für fließendes Wasser, Strom und Licht. Ein Service, den der Staat nicht bieten kann. Da fällt es so manchem Haitianer schwer zurückzukehren in eine Stadt, die außer Perspektivlosigkeit nichts anzubieten hat.

Der Weg zurück ist schwierig: "Das ist kein 100-Meter-Lauf, das ist ein Marathon", sagt Patricio Luna von Caritas International. Luna ist seit vielen Wochen vor Ort, kennt die Entwicklung des Landes aus der täglichen Beobachtung. Die kirchliche Hilfsorganisation bemüht sich um nachhaltige Hilfe. "Die langfristige Aufbauphase hat begonnen", kann Luna berichten. Die erste Phase der akuten Nothilfe dagegen ist abgeschlossen. Wie mühsam das ist, macht eine kleine Zahl deutlich. Jede Woche übergibt Caritas International in der Region zwei fertige Häuser an Familien aus den Zeltlagern. Am Ende sollen es rund 4000 Häuser sein, die in der Ortschaft Fort Hugo stehen und zu einer neuen Heimat werden sollen. Gerne würden die Helfer schneller bauen, doch die öffentliche Verwaltung, die bereits vor dem Beben alles andere als reibungslos funktionierte, ist mit dem 12. Januar endgültig in sich zusammengebrochen. Ganze Behörden, Ministerien und Verwaltungen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Um aber neue Häuser errichten zu können, müssen erst einmal die Eigentumsverhältnisse der Grundstücke geklärt. "Es bringt nichts zu bauen und wenig später kommt irgendein Mensch und beansprucht das Stück Land für sich. Lieber warten wir zwei Monate länger, haben aber dafür die Gewissheit, dass die Bauten auch rechtlich wasserdicht sind", sagt Luna. Deswegen geht es zurzeit nur im Schneckentempo voran. Es wird noch einige Jahre dauern, bis das letzte Haus gebaut ist.

Die neuen Häuser sind schlicht, aber effektiv und vor allem erdbebensicher. Eine Mischung aus Bambusholz und Zement soll helfen, dass die kleinen Gebäude diesmal stehen bleiben, sollte die Erde wieder einmal wackeln. Auf Fensterglas wurde ganz verzichtet, stattdessen gibt es aus natürlichem Material geflochtene Gitter. Und sollten sie doch einstürzen, ist das Material so leicht, dass es keine großen Schäden verursacht.

Der schwierige Weg zum Bau der neuen Häuser offenbart das ganze Dilemma Haitis. Der Staat als Ordnungsmacht fällt nahezu komplett aus. Nicht einmal die mit Spannung erwarteten Präsidentschaftswahlen konnte die regierende Interims-Kommission über die Bühne bringen. Mehr als 300 000 Personalausweise wurden nicht rechtzeitig ausgestellt, Wahlmanipulationen machten das Ergebnis zur Farce. Ob und wann nun der entscheidende Durchgang stattfinden wird, um endlich ein neues Staatsoberhaupt zu wählen, ist immer noch fraglich. Der eigentliche Machtfaktor in Haiti sind aber die Hilfsorganisationen: Sie haben das Geld, das Know-how und die Pläne für die Zukunft. Sie stellen Menschen ein, schaffen Arbeitsplätze und bieten eine - zumindest - vorübergehende Perspektive. Ihre 1000 Helfer bringen Geld ins Land, sorgen für einen kleinen, aber dennoch spürbaren wirtschaftlichen Impuls. Offiziell sind es knapp 500 Hilfsorganisationen, die beim zuständigen Ministerium registriert sind. Inoffiziell sollen es mehr als 3000 sein, einige Experten behaupten sogar, es tummelten sich sogar 13 000 verschiedene Institutionen vor Ort. Große Organisationen wie das Rote Kreuz sind fast alle mit eigenen Ländervertretungen im Land. Tausende Organisationen bedeuten aber auch: Tausende verschiedene Pläne, verschiedene Strategien und verschiedene Zielsetzungen. Nicht immer geht es harmonisch zu: Der Spendenmarkt ist heiß umkämpft, jeder Dollar, jeder Euro, jeder Peso muss erst einmal gespendet werden, da ist der Konkurrenzkampf programmiert. Regelmäßige Meetings der NGO-Spitzen verhindern, dass die Dinge aus dem Ruder laufen. Es sind Kabinettssitzungen der eigentlichen Machthaber.

Trotz all der Rückschläge bleibt die überwiegende Mehrheit der Haitianer beeindruckend ruhig. Es gibt zwar immer wieder kleinere Ausschreitungen, doch der Großteil der Menschen bewahrt auch im Angesicht der vielen Katastrophen der vergangenen zwölf Monate seinen Stolz. Erdbeben, Tropenstürme und die von außen eingeschleppte Cholera-Epidemie haben das Land heimgesucht. Doch die leidgeprüften Haitianer versuchen trotzdem ihren Weg aus all dem Chaos zu finden. Es ist die Eigeninitiative, die das Land am Leben hält. Zehntausende Haitianer räumen mit bloßen Händen die Trümmer weg, täglich. Doch weil es an schwerem Gerät fehlt, wird diese unmenschliche Aufgabe noch Jahre dauern. Die ausländischen Besucher, die für einen kurzen Moment nach Haiti kommen, fällen ihr arrogantes Urteil: Es geht nicht schnell genug.

Die Würde lassen sich die Menschen nicht nehmen, kaum ein Einwohner von Port-au-Prince geht ohne gebügeltes Hemd oder T-Shirt aus dem Haus. In den Zeltlagern floriert die Nachbarschaftshilfe. Es werden Wachen organisiert, sanitäre Einrichtungen aufgebaut, sogar kleine Gemüsegärten entstehen auf Holzkisten. Aber es gibt auch Gewalt gegen Kinder und gegen Frauen.

Bislang haben vor allem die Hilfsorganisationen das Land vor dem Kollaps bewahrt, doch ihre Ressourcen sind endlich. Irgendwann sind die Spenden aufgebraucht und das Interesse der Weltöffentlichkeit wendet sich anderen Schauplätzen zu. Bis dahin tickt die Uhr, jeder Tag, jeder Schritt zählt, um das Land ein klein bisschen nach vorn zu bringen. Die Illusion, aus Haiti ein anderes Land zu machen, hat sich ohnehin schon aus den Köpfen der Menschen und der Helfer verabschiedet. Stattdessen versuchen die Hilfsorganisationen wenigstens einen Übergang zu ermöglichen, den Sturz ins Bodenlose zu verhindern oder zumindest abzufedern. "Ich kann den Menschen versichern, dass alle Spenden auch wirklich ankommen", so Luna. Aber es wird nicht alles auf einmal ausgegeben. Caritas International versucht wie die meisten Hilfsorganisationen perspektivisch zu arbeiten. Mehr als Linderung können die Helfer ohnehin nicht leisten. Luna: "Dafür ist die Dimension dieser Katastrophe einfach zu groß."