In der EU-Fischereipolitik ringen Vertreter der milliardenschweren Industrie mit Umweltschützern und Politikern um Fangquoten.

Brüssel. Die zierliche Frau im dunklen Hosenanzug kneift die Lippen zusammen. Dann erhebt sie sich von ihrem Stuhl auf dem Podium und verlässt mit schnellen Schritten den Sitzungssaal. Es ist die EU-Kommissarin für Fischerei, Maria Damanaki. In dem Saal bleiben 150 Menschen zurück. Man könnte sie als Interessenvertreter bezeichnen - oder als Lobbyisten.

Eben noch haben sie der EU-Kommissarin zugehört, wie sie unmissverständlich eine weitere Reduzierung der Fischfangquoten in den kommenden Jahren vorhergesagt hat. Die einen im Saal haben sich darüber gefreut, die anderen nicht. Die einen sind Wissenschaftler und Vertreter von Umweltverbänden, die anderen sind stellvertretend für die Fischindustrie und die Fangflotten gekommen. Alle Fisch fangenden Länder zwischen Spanien und den Färöern sind vertreten.

Jetzt, nachdem Damanaki gegangen ist, hören sie Vorträge über die Lage der europäischen Meere. Ein Wissenschaftler sagt: "Manche Bestände werden sich nie wieder erholen." Ein Gesandter der dänischen Fischerei-Lobby warnt: "Wir sind bald acht Milliarden Menschen. Wir müssen ernährt werden." Es wirkt so, als sei der Zustand der Meere reine Ansichtssache. Unter den Teilnehmern sind zahlreiche EU-Beamte. Was sie hören und sehen, wird Einfluss nehmen auf die weitere Fischereipolitik. Es ist ein Tag wie jeder andere in Brüssel.

Veranstaltungen wie die Expertenrunde zur Fischereipolitik häufen sich jetzt in der Hauptstadt der EU. Immer im Herbst werden die Fangquoten für das kommende Jahr festgelegt. Auch in diesem Herbst geht es wieder um viel: vor allem um Geld, um die Gewinne einer milliardenschweren Fischindustrie, um Zigtausende Arbeitsplätze, aber auch um das Überleben der Fischarten in den Meeren. Und immer wenn es Herbst wird, prallen die Interessen und Ideologien aufeinander. Die Fischereipolitik gehört zu den kompliziertesten und am stärksten von Lobbyisten durchzogenen Feldern der EU.

Allein die Fisch verarbeitende Industrie hat EU-weit einen Produktionswert von rund 23 Milliarden Euro. Mit 4000 Unternehmen und 126 000 Beschäftigten gehört diese Branche zu den mächtigsten Interessenvertretern, wenn es um die Quoten geht. Jede Quotenveränderung beeinflusst ihre Einnahmen, beeinflusst die Arbeit und die Umsätze der Fangflotten mit ihren 85 000 Schiffen, sogar das Kaufverhalten der Gastronomie.

Fast jeden Monat ist Matthias Keller in Brüssel. Er kommt, um Einfluss zu nehmen. Er hat nichts dagegen, wenn man ihn Lobbyist nennt. Keller ist Geschäftsführer des Bundesverbandes der deutschen Fischindustrie. Und er ist ein Mann mit vielen Argumenten für mehr Fischerei und mehr Fänge. Er sagt: "Wenn es ständig heißt, dass 88 Prozent der europäischen Fischbestände überfischt sind, dann ist es nicht sonderlich schick, europäischen Fisch wie Dorsch oder Hering auf die Speisekarte zu setzen. Dabei stimmt es nicht, dass 88 Prozent der Fischbestände überfischt sind." Keller kennt andere Zahlen. "Rund 25 Prozent der EU-Fangmenge stammt aus überfischten Beständen." Er könne die Rechnung der EU nicht nachvollziehen. "Viele kleine Fischbestände sind noch nicht in Ordnung. Aber dafür sind viele große Bestände gesund", ist er überzeugt.

Die erst seit wenigen Monaten amtierende Fischereikommissarin Damanaki weiß inzwischen, worauf sie sich eingelassen hat. Im Gespräch mit dem Abendblatt gibt sich die Griechin resolut: "Ich bin nicht die Vertreterin der Fischindustrie, nicht der Fischer und auch nicht der Umweltverbände. Ich bin dafür zuständig, dass wir unsere Meere gesund halten. Man könnte auch sagen: Ich bin die Anwältin der Fische." Und sie sagt, dass sie als Kommissarin ein Mandat bis 2015 hat. "Mein Ziel ist es, dass sich die europäischen Meere und die Fischbestände bis dahin weiter erholen." Doch Damanaki selbst ist nur eine Lobbyistin. Die Quoten kann sie nicht festlegen. Sie kann den Fischerei-Ministern im Europäischen Rat nur Empfehlungen geben. Als Machtlose empfindet sich Damanaki dennoch nicht. "Wir verfügen über die wissenschaftlichen Grundlagen, an die sich die Minister halten sollten", sagt sie.

Zumindest in Deutschland scheint sie die für Fischereipolitik zuständige Agrarministerin Ilse Aigner (CSU) auf ihrer Seite zu haben. "Die Europäische Fischereipolitik muss sich bei der Bewirtschaftung der Fischbestände wesentlich stärker als bisher an der Nachhaltigkeit orientieren. Da sind wir uns mit der EU-Kommission einig", macht Aigner im Abendblatt deutlich. Angesichts der schlechten Verfassung vieler Bestände sei eine Neuausrichtung der Politik dringend notwendig, mahnt die Ministerin. Und Aigner hat konkrete Vorstellungen, wie die Meere sich wieder erholen sollen: "Wir brauchen vor allem ein modernes Fischereimanagement. Dazu gehört, dass mehrjährige Bewirtschaftungs- und Wiederaufbaupläne auf weitere Bestände ausgedehnt und unerwünschte Beifänge künftig konsequent vermieden werden." Deshalb trete Deutschland dafür ein, Rückwurfverbote und Anlandegebote einzuführen. Ob Aigner sich im Ministerrat durchsetzen kann, ist ungewiss.

Andere Länder haben ganz andere Interessen. "Es gibt eine sehr starke Fischereilobby, die hinter den Ministern sitzt", weiß Iris Menn, Meeresbiologin bei Greenpeace. "Vor allem in Spanien ist das so." Und Spanien ist der größte Arbeitgeber in der Fischereibranche unter allen EU-Staaten. Menn ist pessimistisch: "Die EU hat seit Jahrzehnten dasselbe Problem. Die Quotenvergabe entspricht nie den wissenschaftlichen Empfehlungen. Die Politiker missachten die Empfehlungen und weichen immer wieder extrem davon ab." Dabei seien die Meere überfischt. "Die Zahlen lassen keinen Zweifel zu."

Die ersten Quoten-Empfehlungen für 2011 sind inzwischen bekannt. Mitte vergangener Woche hieß es aus Brüssel, dass es in der westlichen Ostsee so wenige Heringe wie noch nie gab. Die EU-Kommission schlug daher vor, je nach Ostsee-Region die Quoten für den Hering um 28 bis 30 Prozent zu verringern. Auch der Sprottenfang soll um 30 Prozent sinken. Allein von beiden Fischarten sollen die Fischer im kommenden Jahr demzufolge rund 150 000 Tonnen weniger als in diesem Jahr aus dem Meer ziehen. Es wäre eine gewaltige Reduzierung - wenn sie denn käme. Denn jetzt schlägt die Stunde der Lobbyisten und der Sonderwünsche der Mitgliedstaaten. Fischverbands-Geschäftsführer Keller sieht den Quotenentscheidungen entspannt entgegen: "Wir sind ganz weit weg davon, dass die Fische aussterben. Bevor ein Fisch ausstirbt, stirbt eher der Fischer aus."

Wie die Quoten für 2011 ausfallen, haben nun im Herbst die Fischereiminister der EU-Staaten zu entscheiden. Noch nie haben die Minister exakt die Quoten beschlossen, die die Kommission gefordert hatte. Immer entschieden sich die Staaten dafür, weitaus mehr Fische fangen zu lassen, als wissenschaftlich angeraten wurde. Es scheint so, als ob es diesmal nicht anders wird.