Die Entwicklung der Syrien-Krise entscheidet auch über das politische Schicksal Ankaras. Konflikte mit dem Iran scheinen unausweichlich.

Hamburg. Als der frühere Geschichtsprofessor Ahmet Davutoglu 2009 vom türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan zum neuen Außenminister ernannt wurde, hatte er sein Programm bereits in einem dicken Buch mit dem Titel "Strategische Tiefe" niedergeschrieben. Die Kernaussage des Wälzers fasste Davutoglu in einem inzwischen viel zitierten Satz zusammen: "Null Probleme mit den Nachbarn." Kaum ein politisches Credo ist derart schnell zerstoben wie dieses.

Die Situation mit Syrien ist mittlerweile brandgefährlich, das Verhältnis zu Israel ist zerrüttet, jenes zu den arabischen Nachbarn bestenfalls ambivalent. Und das Klima zwischen Syriens einzigem Verbündeten Iran und der Türkei wird immer rauer.

Bereits ein Abgleich von Buchtitel und Zitat lässt Ungemach ahnen. Denn ein Land, dessen Einfluss strategische Tiefe erlangen soll, wird sich zweifellos Ärger mit den Nachbarn einhandeln. Die Türkei, so hat der Kenner Peter Scholl-Latour stets argumentiert, gehöre nicht in die EU - ihr enorm wachsendes Gewicht sei dazu viel zu groß.

Die Syrien-Krise steckt wie ein Stachel im Fleisch der Türkei. Die Schüsse der syrischen Armee auf türkisches Gebiet, wo sich fast 30 000 verzweifelte Syrer in Flüchtlingslager gerettet haben, veranlasste Erdogan bereits mit der wohlkalkulierten Überlegung, angesichts dieser "eklatanten Grenzverletzung" den Nato-Bündnisfall nach Artikel fünf auszurufen. Es gilt derzeit aber als unwahrscheinlich, dass die Allianz militärisch aktiv werden muss.

Die türkische Armee, mit mehr als 500 000 Aktiven die zweitgrößte der Nato, könnte jedoch bei weiterer Eskalation in Syrien einmarschieren, um eine Schutzzone zu errichten. Militante Kurden wittern nun eine Chance, die Krise zwischen Ankara und Damaskus für ihre separatistischen Zwecke zu instrumentalisieren. Aus syrischen Gebieten entlang der gut 900 Kilometer langen Grenze mit der Türkei wird berichtet, dass Kämpfer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK Gegner des Regimes von Staatschef Baschar al-Assad drangsalieren.

+++ Türkeis Regierungschef Erdogan zu Besuch in Teheran +++

Der Chef des privaten amerikanischen Geheimdienstes Stratfor, George Friedman, schrieb in einer Analyse, die Türkei befinde sich in einer politisch sehr empfindlichen Phase auf dem Weg zu einer Großmacht. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg - für die Türken noch immer ein Trauma - habe in Wahrheit die gefährliche Überdehnung des Landes beendet und eine strategische Neuausrichtung ermöglicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe die Türkei aus Angst vor Moskau eine wichtige Rolle in der amerikanischen Strategie der Eindämmung des sowjetischen Einflusses gespielt. Das Ende des Kalten Krieges habe Ankara schließlich von dieser Verpflichtung befreit; und seit dem US-Einmarsch im Irak ist das Verhältnis zu Washington gar angespannt. Da die Türkei zudem mit dem Wunsch nach einer raschen EU-Mitgliedschaft gescheitert sei, entwickle sie nun eine eigenständige Rolle als regionale Vormacht. Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Einfluss der USA auf den Nahen Osten stark gesunken ist.

Die türkische Strategie erwächst dabei aus drei Fakten. Zum einen aus dem Wegfall direkter militärischer Bedrohungen (Sowjetunion), dann aus der explosiv anwachsenden Wirtschaftskraft sowie der militärischen Stärke und schließlich aus der Tatsache, dass die Türkei von gefährlichen und instabilen regionalen Nachbarn umgeben ist.

Der Aufstieg der Türkei zur Großmacht dürfte sich allerdings kaum völlig reibungslos vollziehen, es droht eine direkte Rivalität mit dem schiitischen Iran, dessen Führung offenbar die überregionale Macht der persischen Großkönige unter islamischem Vorzeichen wiederherstellen möchte. Iran und Syrien versuchen bereits, über den Kurdenkonflikt die Türkei zu schwächen.

Ferner könnte der alte türkisch-arabische Gegensatz wieder aufflammen, sollte Ankara mit seinem Machtanspruch allzu forsch auftreten. Derzeit ist die Türkei mit ihrem politischen und gesellschaftlichen Modell für viele Araber aber ein Vorbild. Und der Widerstand gegen die US-Invasion im Irak hatte die Türken in der arabischen Welt sehr populär gemacht. Doch das Konzept der "Strategischen Tiefe" bezieht sich vor allem auf die Gebiete des verblichenen Osmanischen Reiches - das in seiner größten Ausdehnung eine riesige Spange umfasste, deren Territorium heute unter anderem in Algerien, Ägypten, Jordanien, Israel, dem Irak, Saudi-Arabien, Griechenland und dem Balkan liegt. Die Türkei muss behutsam auf diesem historischen Minenfeld agieren; es wird vom Geschick der Führung in Ankara und überdies von der Entfaltung auch russischer, arabischer, amerikanischer und iranischer Macht in der Region abhängen, wie stark der türkische Einfluss anwachsen wird.

"In naher Zukunft wird die Türkei wichtiger sein als Großbritannien. Iran wichtiger als Deutschland, Saudi-Arabien als Frankreich, Russland als Amerika", prophezeite jedenfalls der angesehene britische Historiker Timothy Garton-Ash die Zukunft dieser Weltregion im Londoner "Guardian".