Wirtschaftlich profitieren das demokratische Taiwan und die Volksrepublik China voneinander, doch politisch trauen sie sich nicht über den Weg.

Wirtschaftlich profitieren das demokratische Taiwan und die Volksrepublik China voneinander. Politisch trauen sie sich nach wie vor nicht über den Weg. Peking will sich die Inselrepublik irgendwann einverleiben, Taipeh setzt auf die Formel "ein Land, zwei Gebiete".

Mit dem Schneidbrenner trennt Maestro Wu ein handliches Stück aus der Stahlummantelung einer Granate ab und legt es in das Schmiedefeuer. Wenig später findet sich das Metall unter dem mechanischen Hammer wieder. Konzentriert und leicht mit dem Oberkörper wiegend dreht es der Maestro unter den wuchtigen Schlägen der Maschine, prüft mit kritischem Blick, hält es bald unter die Funken sprühend Schleifscheibe, richtet noch einmal die Klinge auf dem Amboss und bringt den Griff an. Nach nur 20 Minuten hat Wu Tseng-dong aus der Granate ein hochwertiges Messer gefertigt.

Dass das so schnell möglich ist, liegt nicht nur an Wus Fähigkeiten als Inselschmied auf Kinmen in dritter Generation, sondern auch an dem besonderen Material, das er benutzt. Der Mantel der Granaten hat eine vielfach höhere Dichte als üblicher Stahl, er kommt nahe an die Qualität von Damaszenerstahl oder an die Eigenschaft japanischer Samuraischwerter heran - ohne den sonst erforderlichen mühsamen Schmiedeprozess.

Und das Rohmaterial ist reichlich vorhanden auf der zu Taiwan gehörenden kleinen Insel Kinmen, nur zehn Kilometer vor dem chinesischen Festland gelegen. Zwischen 1958 und dem Ende der 70er-Jahre schlugen etwa eine Million chinesischer Granaten auf Kinmen ein, dem Vorposten der nationalchinesischen Regierung Tschiang Kai-scheks. Zunächst scharfe, später vor allem mit Propagandaflugblättern gefüllte Geschosse. Die Lobpreisungen des Festlandskommunismus haben bei den Inselbewohnern nicht gezündet. Und dank der Fertigkeiten von Maestro Wu und seinem persönlichen Schwerter-zu-Pflugscharen-Programm gelangt heute ein großer Teil der Geschosse in Form von Messern aller Art nach China zurück - im Gepäck der zahlreichen Touristen aus der Volksrepublik, die mittlerweile die Insel besuchen.

Auf Speisekarten lächeln Mao Tse-tung und Tschiang Kai-schek gemeinsam

Die Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik haben sich seit den 90er-Jahren entspannt. Mittlerweile verkehren täglich 20 Fähren zwischen Kinmen und der gegenüberliegenden Millionenstadt Xiamen, deren stets wachsende Skyline am dunstigen Horizont gut zu erkennen ist. Nur eine gute halbe Stunde, und die Besucher vom Festland können die Artilleriestellungen und Tunnel bestaunen, die der einstige Feind in den harten Inselgranit gesprengt hat. Auf den Speisekarten der Lokale und auf Werbetafeln von Geschäften sind die einstigen Antipoden Mao Tse-tung und Tschiang Kai-schek friedlich lächelnd vereint. Und die Volksrepublikaner können ein winziges Stück China besichtigen, dessen Identität nicht durch Maos Kulturrevolution schwer beschädigt wurde, in dem noch alte Riten und Traditionen gepflegt werden, unzählige Tempel zu Gebet und Kontemplation einladen und wo die Lehren des Konfuzius ihre Gültigkeit bewahrt haben.

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Auch auf der Hauptinsel Taiwan landen dank zahlreicher Direktflüge täglich Tausende Touristen vom Festland, besichtigen die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt Taipeh und der Provinz. Umgekehrt fliegen viele Taiwaner in die Volksrepublik, geschäftlich, zu Verwandten oder auch als Touristen. Ein wenig erinnert die Situation an die Ostpolitik Willy Brandts, an die These vom Wandel durch Annäherung.

So sieht es vor allem Dr. Shaocheng Tang vom Institut für internationale Beziehungen der Chengchi-Universität in Taipeh. Der freundliche Herr mit grauen Haaren und traditioneller chinesischer Jacke, der einst in Bonn studierte und promovierte, hat deutsch-deutsche Geschichte hautnah miterlebt. "Seit 2008 verfolgen wir eine ähnliche Politik wie die Bundesrepublik nach 1969. Wir wollen keine Konfrontation mehr, sondern mehr Aussöhnung. Zwischen Taiwan und China gibt es Sonderbeziehungen wie zwischen der BRD und der DDR", sagt er.

Man definiere sich gegenseitig nicht als Ausland, sondern als ein China, interpretiere diesen Zustand aber unterschiedlich. 16 bilaterale Abkommen wurden bisher geschlossen. Es gibt eine Art Freihandelsabkommen. Würde Taiwan etwa seine Unabhängigkeit erklären, hätte das unabsehbare Folgen bis hin zu einem Krieg. Peking hat eigens für diesen Fall 2005 ein "Antiabspaltungsgesetz" erlassen.

"Der Formel, ,ein Land, zwei Gebiete' widerspricht Peking nicht, stimmt ihr aber auch nicht zu", sagt Tang. "Uns fehlt noch eine staatsrechtliche Definition über unser Verhältnis." Zurzeit gebe es Diskussionen über die Einrichtung ständiger Vertretungen und die Möglichkeit direkter Devisengeschäfte. Taiwan würde einen Teil seiner Devisenreserven gern in Renminbi anlegen, da das Vertrauen in Dollar und Euro angesichts der Finanzkrise geschwunden ist. Aber bisher gibt es keinen Wechselkurs für die Währung der Volksrepublik und dem Taiwan-Dollar. Um das zu erreichen, seien weitere politische Konzessionen nötig. Pekings permanente Aufrüstung sieht Tang eher gegen die USA, Japan und Südkorea gerichtet denn gegen Taiwan. Und auch die weitere Unterstützung der Amerikaner für sein Land hält der Politologe für gegeben, da Taiwan zur Eindämmung des chinesischen Einflusses in der Region gebraucht werde. Prinzipiell unterstütze Washington den im Januar wiedergewählten Präsidenten Ma Ying-Jeou von der national-konservativen Kuomintang-Partei (KMT) und dessen Kurs.

Zu einer ganz anderen Lagebeurteilung kommt Dr. Jaushieh Wu, der im selben Institut nur einen Block weiter forscht. Er war in der Regierungszeit des Präsidenten Chen Shui-bian (2000-2008) von der heute oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei DDP Vertreter seines Landes in den USA. "Vietnam, Malaysia, die Philippinen - alle sind von der chinesischen Expansion bedroht", gibt er zu bedenken. "Alle suchen wieder mehr Nähe zu Amerika. Auch die Demokratisierung in Myanmar ist unter dem Gesichtspunkt zu sehen."

Mit der wirtschaftlichen Dominanz wachse auch die militärische Bedrohung durch China in der Region. "Die Situation für Taiwan wird schwieriger", sagt Wu überzeugt. "Peking blockiert alle unsere internationalen politisch-diplomatischen Bemühungen und versucht, Taiwan als Teil Chinas darzustellen. Peking nimmt immer mehr Einfluss auf Geschäftsleute, um Wahlen im Sinne der KMT zu beeinflussen." Zugleich versuche China, den Medienmarkt der Insel zu durchdringen, durch Anzeigen Einfluss auf die Berichterstattung zu nehmen. Das Ziel Pekings sei klar: die kleine Inselrepublik über kurz oder lang zu schlucken.

"Aber auch 23 Millionen Taiwaner haben ein Recht auf internationale Teilhabe", empört sich Wu. Und ein Recht darauf, ihre demokratische Gesellschaft zu wahren und zu verteidigen. Zumal Wu auch den Rückhalt für sein Land im Westen, bei den USA, Kanada, Japan und der Europäischen Union schwinden sieht. "Manchmal habe ich den Eindruck, Washington denkt: Sollen sich doch Taiwan und die Volksrepublik weiter annähern, dann haben wir ein Problem weniger." Und alle zusammen schauen nur wie gebannt auf den ökonomischen Riesen Peking.

Dabei ist Taiwan keineswegs ein wirtschaftliches Leichtgewicht. Vor allem nicht für China. Ohne die milliardenschweren Investitionen und den Transfer von wirtschaftlichem Sachverstand wäre der schnelle Aufstieg der Volksrepublik kaum denkbar gewesen. Hoffnung liegt auf Xi Jinping, der im Herbst Nachfolger von Chinas Staatspräsidenten Hu Jintao werden soll. Xi war einst Gouverneur der Taiwan gegenüberliegenden Provinz Fujien und hat in dieser Eigenschaft die wirtschaftliche Öffnung mitinitiiert. Viele erwarten von ihm Verständnis für die Seelenlage der Taiwaner. Und hoffen darauf, dass nach der marktwirtschaftlichen Beeinflussung durch Taiwan eine gesellschaftliche folgen könnte. Eine Garantie dafür gibt es aber nicht.

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Fragt man junge Menschen auf den Straßen Taipehs, als was sie sich fühlen, antworten sie, ohne zu zögern: als Taiwaner. Taiwans Jugend ist in Freiheit aufgewachsen, orientiert sich an westlichen Werten und Vorstellungen. In einer ehemaligen japanischen Sake-Fabrik und Schnapsbrennerei hat ein alternatives Kulturzentrum seine Heimat gefunden. Im Viertel Ximending tobt das bunte Nachtleben, und auch die Umweltbewegung gewinnt mehr und mehr an Bedeutung. Der unabhängige Fernsehsender Da Ai Television hat wegen der deutschen Energiewende eigens eine junge Reporterin ins ferne Europa entsandt, die eine elfteilige Reportage über den Einsatz regenerativer Energien, Passivhäuser und das Erneuerbare-Energien-Gesetz mit nach Hause gebracht hat. Und Chih Yi-wu ist nun überzeugt: "Taiwan kann viel von Deutschland lernen." Das Land betreibt in einer der erdbebenreichsten Gegenden der Erde vier Kernkraftwerke.

Umweltstandards, Menschenrechte, persönliche Freiheiten - Errungenschaften, die die meisten Taiwaner nicht mehr aufgeben wollen. Abstand zu Pekings rigoroser Politik kommt in Umfragen zum Ausdruck: Nur 1,4 Prozent wären für eine sofortige Vereinigung mit China, eine Mehrheit von 33,6 Prozent ist für die Beibehaltung des Status quo und eine spätere Entscheidung; 25,9 Prozent wollen die jetzige Lage gar nicht verändert wissen; gut 17 Prozent sind für eine spätere Unabhängigkeit und 10,6 Prozent für eine langfristige Wiedervereinigung.

Die Kernfrage bleibt, zu wessen Bedingungen. Shieh Chi-wei, Professor für Deutsch an der privaten Soochow-Universität, hat da seine Befürchtungen: "Ma Ying-Jeou ist die Vereinigung mit China wichtiger als unsere Demokratie", glaubt er. Der Präsident verfolge die traditionelle Kuomintang-Linie, wonach die Einheit des Landes Priorität hat. Darüber ist Taiwans Gesellschaft gespalten, und an dieser Frage werden alte Konflikte sichtbar. Zum Beispiel die zwischen den Chinesen, die seit dem Mittelalter auf Taiwan ansässig sind, und denen, die mit Tschiang Kai-schek auf der Flucht vor Maos Garden auf die Insel kamen. Die einen hängen mehr an ihrer Eigenständigkeit, die anderen mehr an der großen Nation.

Präsident Ma hat nicht das Vertrauen aller seiner Staatsbürger

Gegen die hat auch Professor Shieh, Sohn taiwanischer Eltern, nichts. Nur eben nicht um jeden Preis. Er erzählt eine Begebenheit aus seiner Studentenzeit in den 70er-Jahren, als in Taiwan noch Kriegsrecht herrschte. "Damals gab es an jeder Universität einen Offizier, bei dem man sich einmal im Monat zur Haarschnittkontrolle vorstellen musste. In den dreimonatigen Sommerferien ließen wir das Haar natürlich wachsen." Als er einmal in den Ferien mit Freundin und zu langen Haaren die Straße überquerte, lief er prompt einem Polizisten in den Weg. "Der nahm mich mit zum nächsten Friseur, dort wurde einmal kreuzweise über meinen Kopf geschoren." So etwas will er nie wieder erleben, schon gar nicht unter kommunistischen Vorzeichen.

Und er berichtet von seinem Rechtsstreit mit Präsident Ma, dem er vorwarf, damals in amerikanischen Universitäten Kommilitonen aus Taiwan im Dienst der Militärdiktatur bespitzelt zu haben. Ma verklagte ihn, Shieh bekam recht. Vertrauen in seinen Staatschef und dessen Politik hat er aber nicht mehr.