Die Proteste sind kein Arabischer Frühling. Aber sie zeigen, wie ein Land erwacht. Die Bürger kämpfen für eine offene Gesellschaft.

Moskau. Bis fünf Uhr morgens hat Olga Romanowa Mails beantwortet, und um zehn Uhr am nächsten Tag betritt sie schon zusammen mit ihrem Mann Alexei Koslow das Gebäude eines Moskauer Gerichts. Eine Gerichtssitzung beginnt, der Fall Koslow wird erneut verhandelt. Der Geschäftsmann verbrachte drei Jahre im Gefängnis, nachdem er wegen Unterschlagung und Geldwäsche verurteilt wurde. Romanowa, ehemalige Fernsehjournalistin, kämpfte für seine Freilassung, denn sie war sicher: Der Fall ist konstruiert.

Im vergangenen Jahr geschah nach russischen Gegebenheiten ein Wunder, und der Oberste Gerichtshof ordnete die Freilassung Koslows an. Der Sieg von Olga Romanowa gibt Frauen anderer verurteilter Unternehmer Hoffnung, die sich in einem Klub mit dem Namen "Das sitzende Russland" vereinigt haben. Viele von ihnen waren überzeugt, dass sie gegen das korrupte Gerichtssystem nichts machen können, dass sie auf sich alleine gestellt sind. Romanowa zeigte mit ihrem Beispiel, dass es in Russland auch anders gehen kann. Doch das ist noch kein endgültiger Sieg - das Gericht der unteren Instanz soll den Fall erneut verhandeln. Romanowa setzt sich auch für andere Häftlinge ein, es werden immer mehr. "Um zu gewinnen, muss ich das ganze System ändern", sagt sie. "Und dafür brauche ich eine Revolution."

Deshalb ist es kein Zufall, dass Romanowa nun Demonstrationen mitorganisiert - für faire Wahlen, Freilassung der ungerecht Verurteilten und gegen das korrupte Regime. Sie sammelt Spenden über das russische Internet-Zahlungssystem Yandex Money. Während die Gerichtssitzung läuft, postet sie bei Facebook den Zwischenstand: etwa eine Million Rubel (25.000 Euro). Für die letzte Großdemonstration am 24. Dezember konnte sie innerhalb von drei Tagen vier Millionen Rubel (100.000 Euro) sammeln. Nun gehört Romanowa auch zu den 16 Gründern der Liga der Wähler, einer Vereinigung von Intellektuellen und Bürgeraktivisten, die sich für faire Wahlen und neue bürgerliche Aktivität einsetzen.

"Wir sind Wähler 365 Tage im Jahr", sagte Journalist Leonid Parfenow, dem die Idee der Liga gehört. "Zu den fairen Wahlen gehören auch unabhängige Medien und Gerichte." Obwohl die Liga de facto politische Änderungen fordert, betonen ihre Gründer, dass sie unpolitisch sind - das heißt, sie unterstützen keine Partei und keinen Präsidentschaftskandidaten. Keiner der Gründer habe politische Ambitionen, und falls sie entstehen würden, solle er die Liga verlassen.

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Die Runde der Liga-Gründer ist bunt und locker, als sie ihre Vereinigung vorstellen. Alle sind bekannt in Russland. Japanologe und Literaturkritiker Grigori Tschchartischwili, der unter dem Pseudonym Boris Akunin zum Bestseller-Autor geworden ist. Journalist und Dichter Dmitri Bykow, der mit seiner Sendung "Dichter und Bürger" politische Satire in Russland wieder belebte. Rocksänger Juri Schewtschuk, der sich traute, Wladimir Putin unangenehme Fragen von Angesicht zu Angesicht zu stellen. Der Blogger und Fotograf Ilja Warlamow, der seit Jahren über Protestaktionen berichtet. Die Ärztin Elisaweta Glinka (bekannt als Dr. Lisa), die sich für kranke Obdachlose einsetzt. Pjotr Schkumatow, Leiter der Autofahrer-Bewegung Blaue Eimer, die gegen Willkür der Beamten auf den russischen Straßen protestiert.

Als vor der Kundgebung am Sacharow-Prospekt im Dezember Internet-Nutzer über die Redner abstimmten, waren Schewtschuk, Parfenow, Akunin, Bykow weiter oben auf der Liste als der Oppositionspolitiker Boris Nemtsow. Demonstranten wollten keine Politiker sehen, sondern prominente Schriftsteller, Journalisten und Musiker, die auch "wütende Bürger" sind und damit Zehntausenden aus der Seele sprechen.

Eine Vereinigung Graschdanin Nabljudatel (Bürger Wahlbeobachter) wurde noch vor den Parlamentswahlen gegründet und hatte 500 freiwillige Wahlbeobachter ausgebildet. Zur Präsidentenwahl braucht man zehnmal so viele. Immerhin meldeten sich bereits 2300 Freiwillige bei der Vereinigung an, mehr als die Hälfte davon waren bereits bei einem Vorbereitungstreffen. Bürger Wahlbeobachter wird auch von der Liga der Wähler unterstützt, die ihre Freiwilligen dorthin schickt. Eine Woche nach der Vorstellung der Liga haben sich auf ihrer Seite 160 Arbeitsgruppen angemeldet. "Es gibt außerdem etwa 300 Aktivisten, jeder von ihnen hat wiederum ein eigenes Netzwerk", sagt Olga Romanowa. Sie will sie miteinander verbinden.

An einem Sonntagnachmittag trifft sie in einem Moskauer Restaurant junge Menschen, die sich Gruppe Widerstand nennt. Nikolaj Beljaew und Nikolaj Lewschits verbrachten vor der Demonstration am 24. Dezember Nächte in der Kneipe Masterskaja (Werkstatt), wo sie wie in einer richtigen Werkstatt der Revolution Plakate und weiße Bänder, Symbole der Proteste, fertigten und über die Zukunft diskutierten. Ein anderer Mann am Tisch ist ein bekannter Top-Finanzmanager und will nicht, dass sein Name genannt wird Wir nennen ihn hier Wiktor. "Eigentlich dachte ich, dass ich einen festen Plan für die nächsten vier Jahre habe", erzählt Wiktor. "Ich bin 40 Jahre alt. In vier Jahren wollte ich ein Business in Australien kaufen und auswandern. Dann aber wurde mir klar, dass ich lieber hierbleiben will." Doch um ein Unternehmen hier zu führen, muss man sicher sein, dass es nicht von der Korruption vernichtet wird. Dafür braucht man auch grundlegende Veränderungen. Wiktor sagt, vielen Freunden aus seinem Kreis gehe es ähnlich. Er wolle sie jetzt dazu bewegen, aktiv an Veränderungen mitzuwirken.

Was aber passiert nach dem 4. März? An diesem Tag finden Präsidentenwahlen statt. Fast niemand hat ernsthafte Zweifel daran, dass Wladimir Putin sie gewinnt. Werden dann die Proteste in sich zusammenfallen? Niemand kennt die Antwort, doch alle sind entschlossen, weiterzukämpfen. "In unserem Land gibt es keine demokratische Kultur, und unser Ziel ist, diese Kultur zu schaffen." Nicht mehr und nicht weniger. Das sagt Pjotr Schkumatow von der Bewegung Blaue Eimer. Am 4. Februar wollen die Moskauer wieder für faire Wahlen demonstrieren. Nach einer langen Diskussion mit den Beamten wurde eine Route durch das Stadtzentrum abgestimmt. Auch das ist ein kleiner Sieg.