Zehntausende fordern am Jahrestag des Beginns der Revolte auf Kairos Tahrir-Platz ein Ende der Militärherrschaft

Kairo. Die ganze Nacht hat sie trommeln geübt und die dazugehörenden Sprechchöre. Als der Demonstrationszug dann gegen 14 Uhr vom Kairoer Stadtteil Mohandessin Richtung Tahrir-Platz aufbricht, ist Nada Amin fast heiser. Dafür schreien Tausende andere um sie herum umso lauter: "Nein zur Herrschaft des Militärrats! Lasst unsere Gefangenen frei!" Nadas Gruppe, die sich "Nein zu Militärtribunalen" nennt, ist Teil eines Sternmarsches auf den Platz im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt, wo vor einem Jahr die Revolution begann. Die Studentin der Kommunikationswissenschaften war von Anfang an dabei, als die Massen auf dem Platz Reformen und mehr bürgerliche Freiheiten verlangten und schließlich den Sturz des Präsidenten. Nada entwarf die Schilder mit der Aufschrift: "Das Volk will den Rücktritt des Regimes". Er wurde zum Slogan. Als Husni Mubarak dann unter dem Druck der Straße zurücktreten musste und das Militär sich auf die Seite des Volkes stellte, wähnten sich Nada und ihre Mitstreiter im Himmel voller Hoffnungen. Als dann noch die Prozesse gegen einige Verantwortliche für die toten Demonstranten, die grassierende Korruption und Vetternwirtschaft nebst illegaler Bereicherung begannen, hatte Nada das Gefühl, es gehe vorwärts mit der Demokratie in Ägypten. Mittlerweile glaubt sie, dass diese Verfahren Schauprozesse seien, die zwar einige wenige Bauernopfer fordern, aber nicht mit ehrlicher Absicht geführt werden.

Jetzt trägt die 24-Jährige denselben schwarzen Mantel, die Jeans und die Turnschuhe wie vor einem Jahr. Nur dass sie heute ernüchterter zur Demonstration geht als damals. "Als die zwei Wochen der Straßenkämpfe im November und Dezember stattfanden, zeigten die Militärs ihr wahres Gesicht", sagt sie verbittert. Die von der Protestbewegung verhasste Spezialpolizei war wieder eingesetzt worden. Vom Mubarak-Regime ausgebildet, gingen die Männer gegen Demonstranten vor und lösten einen Sitzstreik vor dem Innenministerium gewaltsam auf. Die Szenen hätten an die in der Mubarak-Zeit erinnert, als jeglicher Protest brutal niedergeschlagen wurde, sagt Nada.

Im Dezember dann knüppelten Armeeangehörige Frauen, Kinder und ältere Menschen nieder, als die Auseinandersetzungen vor dem Parlamentsgebäude stattfanden. Das Foto mit der bis auf ihren BH entblößten Demonstrantin, die am Boden liegt und von einem Militärpolizisten getreten wird, ging um die Welt und löste Empörung aus. Trotzdem drehte sich die Stimmung gegen die jungen Revolutionäre. "Euch sollte man alle ins Gefängnis stecken", blaffte ein Taxifahrer Nada an, als sie nach einem der letzten Protestabende vom Tahrir-Platz nach Hause fahren wollte. "Habt ihr denn noch nicht genug von den ewigen Demonstrationen?" Spätestens dann hat die Studentin begriffen, dass die Revolution ihr und den anderen Aktivisten aus den Händen zu gleiten droht.

Inzwischen sind nach Angaben der Aktivisten rund 12 000 von ihnen verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt worden. Fast 100 sind seit der Machtübernahme der Militärs im Februar 2011 getötet worden. Natürlich freuen sich Nada und die anderen über die vom Militärrat angekündigte Freilassung von 1959 Inhaftierten. Doch nicht alle sind zum Jahrestag der Revolution auf freiem Fuß. Der Blogger Maikel Nabil sitzt noch immer im Gefängnis. Er wurde im März letzten Jahres wegen "Verunglimpfung des Militärrats" verhaftet, als er in einem Eintrag auf Facebook die Einheit von Militär und Volk infrage stellte.

Vor einem Café in Alexandria erzählt Tarek al-Masri, wie alles begann: "Er war klein und unscheinbar." Oft habe der 28-jährige Khaled Said hier gesessen, habe Zeitung gelesen oder diskutiert. Er war bekannt als Computerfachmann. Wer etwas über Facebook oder Twitter wissen wollte, konnte abends hierherkommen und ihn fragen. "Er wusste alles", schwärmt Tarek von dem Mann, der in Ägypten Geschichte geschrieben hat. Er gilt als die Schlüsselfigur der Revolution. Mit Khaled Said fing alles an - im Sommer 2010, als er Videos ins Internet stellte und damit dunkle Machenschaften von Polizisten entlarvte, die Geld von Drogendealern entgegennahmen. Damit machte er die weitverbreitete Korruption von Staatsdienern sichtbar. Die Polizisten rächten sich an dem jungen Mann, zerrten ihn aus dem Café und schlugen ihn tot. Es war nicht das erste Mal, dass jemand nach Misshandlungen durch Polizisten starb. Doch dieses Mal regte sich der Protest und verbreitete sich über die elektronischen Medien.

Auch der Politologiestudent Tarek hat von dem Mord durch Facebook erfahren. "Alle Studenten wussten davon", behauptet er. Es gab Demonstrationen, die sich zu Protestkundgebungen gegen die Regierung entwickelten. Doch es sollte noch sechs Monate dauern, bis sich vom Tahrir-Platz aus die Revolte zur Massenbewegung auswuchs.

Inzwischen hat Tarek miterlebt, wie der Gouverneurspalast in Flammen aufging, das Gebäude der Staatssicherheit gestürmt, die Behörde aufgelöst wurde. Wie die Vier-Millionen-Stadt am Mittelmeer einen neuen Gouverneur bekam, aber sonst so ziemlich alles beim Alten blieb und doch alles anders wurde. Wie die gerade zu Ende gegangenen Parlamentswahlen seine Stadt in einen Plakate- und Posterwald verwandelten und wie die Salafisten ihren Siegeszug antraten. Denn nirgends sind die radikalen Islamisten so stark wie hier. In Alexandria haben sie ihre Hochburg. Noch vor wenigen Monaten ziemlich unbekannt, sind sie nach den Muslimbrüdern zur zweitstärksten politischen Kraft in Ägypten avanciert. Alle islamischen Parteien zusammen haben fast75 Prozent der Stimmen erhalten.

Der Demonstrationszug der Militärtribunal-Gegner in Kairo erreicht kurz vor Sonnenuntergang die Nilbrücke, die direkt zum Tahrir-Platz führt. Dort kommen Nada und ihre Kollegen erst einmal zum Stehen. Hunderttausende sind aus der ganzen Stadt eingetroffen und bewegen sich auf den Platz zu, der zum Sinnbild des neuen Ägypten wurde. "Es sind mehr Leute als letztes Jahr", stellt Nada freudig fest, "die lassen uns doch nicht allein mit der Revolution." Die Sicherheitskräfte halten sich diskret zurück. Nur Verkehrspolizisten sind zu sehen. Man ist um Deeskalation bemüht. Am Abend zuvor hatte Feldmarschall Hussein Tantawi angekündigt, dass der Ausnahmezustand, der in Ägypten seit der Ermordung von Präsident Anwar al-Sadat im Jahre 1981 herrscht, teilweise aufgehoben werde, eine der Kardinalforderungen der Revolutionäre. Damit sind willkürliche Verhaftungen nicht mehr erlaubt. Doch gelte dies nicht für "kriminelle Banden", schränkte Tantawi ein.

"Wer weiß, wie bald er uns als solche bezeichnet", sagt Nada skeptisch. Die Konfrontation zwischen der Protestbewegung und den Militärs wird weitergehen, bis diese endgültig die Macht abgeben. Da sind sich Nada und die anderen sicher: "Wir haben erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, vielleicht sogar nicht einmal die Hälfte."