Mit einer leidenschaftlichen Rede im Kongress positioniert sich der US-Präsident im Wahlkampf als Beschützer der Mittelschicht

Washington. Als Barack Obama am Dienstagabend kurz nach 21 Uhr Ortszeit für seine "Rede an die Nation" ans Rednerpult trat, saßen 43 Millionen Zuschauer daheim vor den Fernsehern. Elf Fernsehstationen übertrugen den 75-minütigen Auftritt live. Zum Vergleich: Die Debatten der republikanischen Präsidentschaftskandidaten kommen auf jeweils rund sieben Millionen Zuschauer. Kein Wunder, dass ein kämpferischer US-Präsident mit der möglicherweise wichtigsten Rede seiner Amtszeit die Kampagne zu seiner Wiederwahl im November eröffnete. Jobs, Jobs, Jobs und eine Steuerreform, die den Großverdienern höhere Abgaben auferlegen soll: Das waren Obamas zentrale Verheißungen in einer Zeit, in der neue Gesetze und nachhaltige Kurskorrekturen angesichts des Patts zwischen Weißem Haus und Kongress gar nicht durchsetzbar sind.

"Den amerikanischen Traum aufrechtzuerhalten bedeutete niemals Untätigkeit. Er hat von jeder Generation Opfer und Kampf verlangt und die Erfüllung der Forderungen der jeweils neuen Zeit. Nun sind wir am Zug", sagte Obama. Ein faires Amerika beschwor der Präsident in Zeiten einer nur langsam Fahrt aufnehmenden Wirtschaft und einer Arbeitslosigkeit, die trotz des Drei-Jahres-Tiefpunktes von 8,5 Prozent immer noch als bedrückend hoch empfunden wird.

Fast vier Millionen Arbeitsplätze seien verloren gegangen "in den sechs Monaten, bevor ich das Amt antrat", erinnerte der Präsident, und ebenso viele Jobs vor Beginn seiner Reformen. Jetzt aber werde alles besser: "In den vergangenen 22 Monaten hat die Wirtschaft über drei Millionen neue Jobs geschaffen. Voriges Jahr entstanden die meisten Arbeitsplätze seit 2005. Amerikanische Produzenten stellen wieder ein und schaffen erstmals seit den 90er-Jahren wieder Arbeitsplätze."

Doch weil der Kongress "nicht einmal Routineangelegenheiten" passieren lasse, blieben weitere Verbesserungen aus. "Keine Partei ist unschuldig an dieser Taktiererei. Nun sollten beide Parteien sie beenden", forderte Obama und nahm dann insbesondere die Republikaner ins Visier, die der von den Demokraten intensiv beklatschten Rede zumeist schweigsam und kopfschüttelnd folgten.

Als Gesicht eines gerechteren Amerika saß Debbie Bosanek, die Sekretärin des Multimilliardärs Warren Buffett, in der Loge von Michelle Obama. Der Großinvestor hatte vor geraumer Zeit beklagt, dass diese Mitarbeiterin, stellvertretend für den Mittelstands-Amerikaner, einen höheren Steuersatz zahle als er selbst. Daraus kreierte Obama die "Buffett-Regel": "Wer mehr als eine Million Dollar im Jahr verdient, sollte nicht weniger als 30 Prozent Steuern zahlen." Eine große Reform müsse sicherstellen, dass "Leute wie ich und eine große Menge der Kongressmitglieder unseren fairen Anteil an den Steuern tragen", warb der Präsident. Erst am Abend zuvor hatte Mitt Romney, der Favorit im republikanischen Vorwahlkampf, seine Steuererklärung für 2010 veröffentlicht, laut der er 21 Millionen Dollar verdient, aber nicht einmal 14 Prozent Steuern gezahlt hatte.

"Washington sollte aufhören, Millionäre zu begünstigen", sagte Obama und versprach: "Andererseits - wer, wie 98 Prozent der amerikanischen Familien, unter 250 000 Dollar im Jahr verdient, der sollte keine Steuererhöhung bekommen. Ihr seid es, die mit steigenden Kosten und stagnierenden Löhnen zu kämpfen habt. Ihr seid es, die Erleichterung benötigen! Nun, wer will, kann dies Klassenkampf nennen", griff der Präsident die erwartbare Kritik auf. "Aber einen Milliardär aufzufordern, mindestens so viel an Steuern zu zahlen wie seine Sekretärin? Die meisten Amerikaner würden dies gesunden Menschenverstand nennen."

In der Außenpolitik lobte sich Obama für den abgeschlossenen Truppenabzug aus Irak, dem nun erste Einheiten aus Afghanistan folgen. Obama zeigte sich entschlossen, die atomare Aufrüstung des Iran zu verhindern. "Ich werde keine Option vom Tisch nehmen", deutete er die Möglichkeit eines Militärschlages an. Eine Rückkehr an den Verhandlungstisch sei aber ebenfalls möglich "und viel besser".

Der Präsident präsentierte sich drei Jahre nach seiner Inauguration erneut als überzeugender Rhetoriker. Ob ihm die Amerikaner noch vertrauen, wird jedoch weniger von der Rede und dem Wahlkampf abhängen als von der Frage, wie sich die Wirtschaftsdaten in den kommenden Monaten entwickeln. Und so beeindruckend die 43 Millionen Fernsehzuschauer erscheinen: Voriges Jahr war die Fangemeinde noch um fünf Millionen Zuschauer größer. Der ersten Rede des damaligen Hoffnungsträgers einer verunsicherten Nation vor beiden Kongresskammern folgten am 24. Februar 2009 gar 52,4 Millionen Amerikaner.