Die Gefahr für Mensch und Natur, das Versagen der Konzerne: Zwölf wichtige Fragen und die Antworten von Experten

Das Ausmaß der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko ist laut Experten noch größer als bislang befürchtet. Demnach treten täglich nicht sieben Millionen, sondern bis zu 9,5 Millionen Liter Öl aus dem Leck aus. Es ist bereits das dritte Mal, dass die Ölmenge nach oben korrigiert werden musste. Welche Folgen die Ölpest für die Natur, die Menschen und die Ölversorgung hat - hier die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie viel Öl wird noch ins Meer strömen?

Das ist schwer abzuschätzen, da keine der Angaben verlässlich ist. Wenn man davon ausgeht, dass ein Drittel der austretenden Menge aufgefangen wird und diese Situation bis zu einer Schließung des Lecks Mitte August anhält, würden weitere 380 Millionen Liter ins Meer gelangen. Allein das wäre etwa das Achtfache dessen, was vor 21 Jahren beim Unglück des Tankers "Exxon Valdez" auslief.

Wie groß sind die Verluste in der Tier- und Pflanzenwelt?

Zwar werden täglich die an Stränden eingesammelten Ölopfer gezählt, doch machen sie nur einen Bruchteil der tatsächlich getöteten oder geschädigten Meeres- und Küstenbewohner aus. Die Tagesstatistik wies am vergangenen Dienstag 770 tote und 609 noch lebende verölte Vögel aus, dazu 341 tote Meeresschildkröten sowie 41 tote Delfine und andere Meeressäuger.

Wie dringt das Öl in die Nahrungskette des Meeres ein?

Es wird von Meerestieren aufgenommen, die Plankton fressen. Muscheln filtern sich Nährstoffe aus dem Wasser und mit ihnen die Schadstoffe. Diese reichern sich im Muskelfleisch an und werden weitergegeben, wenn Fische und Vögel die Muscheln fressen. Der Meeresbiologe John Hocevar, der für Greenpeace die Strände Louisianas inspiziert, berichtet von Zehntausenden toten Einsiedlerkrebsen. Sie seien ein wichtiger Teil des Nahrungsnetzes. Ufervögel wie Löffler und Reiher ernähren sich von ihnen, ebenso einige Haiarten, Flundern und andere Fische.

Können belastete Fische oder Meeresfrüchte nach Europa kommen?

Die US-Behörden haben Maßnahmen ergriffen, die verhindern sollen, dass belastete Tiere überhaupt auf den Teller kommen. Etwa ein Drittel der US-Gewässer im Golf ist bereits für die Fischerei gesperrt. Ein Beprobungsplan soll zudem sicherstellen, dass angelandetes Meeresgetier schadstofffrei ist. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf Austern, Krebse und Garnelen, weil ihre Körper das Öl weniger schnell abbauen, als Seefisch dies tut.

Ist das Ausmaß der Schäden im Meer überhaupt einzuschätzen?

Nein, dies sei nicht möglich, sagt Dr. Christian Bussau, Öl-Unfall-Experte bei Greenpeace: "Der Ölabbau am Boden läuft ähnlich langsam wie in der Arktis, weil es in der Tiefsee sehr kalt ist. Wie er verläuft, ist vollkommen unbekannt. Wir wissen noch nicht einmal, welche Tiere dort leben - und jetzt sterben." Im freien Meer seien die Schäden geringer, schätzt Bussau: "Viele Meerestiere pflanzen sich durch Larven fort. Diese erobern verlorenes Terrain sehr schnell zurück, wenn sich die Lebensbedingungen gebessert haben."

In welchem Zeitraum wird Öl im Meer abgebaut?

Der biologische Abbau, bei dem Bakterien das Öl (chemisch: Kohlenwasserstoffketten) zersetzen, ist von vielen Faktoren abhängig. Die Mikroben erreichen bei 25 bis 35 Grad die höchsten Stoffwechselraten, diese Bedingungen sind im Golf zumindest an der Meeresoberfläche in etwa erreicht. Wellengang und Verwirbelungen verdünnen das Öl, machen es für die Bakterien besser verdaulich und erhöhen die Angriffsfläche für die Ölzersetzer. Die besonders schweren, langkettigen Ölanteile seien jedoch kaum abzubauen, sagt Martin Krüger von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover.

Wie hilfreich ist der Einsatz von ölbindenden Chemikalien?

Greenpeace-Experte Bussau hält davon nichts: "Es sind bereits mehrere Tausend Tonnen Chemikalien eingesetzt worden, ohne dass die Wirkungen auf die Meerestiere und das Plankton bekannt sind. Chemie oder Öl - das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera." Auch BGR-Experte Krüger ist skeptisch: "Man sollte die Mittel keinesfalls in größerer Menge einsetzen, sondern es der Natur überlassen, das Öl unschädlich zu machen. Das passiert auf festem Untergrund, etwa dem Meeresboden, durch den bakteriellen Abbau. In der Wassersäule spielt die Verdünnung die Hauptrolle. Dadurch erreicht das Öl im Wasser Konzentrationen, die für die Meeresbewohner nicht mehr giftig sind."

Wie entwickelt sich die Situation, wenn bald die Hurrikan-Saison beginnt?

Die Lage würde sich dadurch erheblich verschlimmern, fürchtet Meeresbiologe Bussau. Alle Rettungsarbeiten müssten eingestellt werden. Zudem würde der Sturm das Öl an die Küste, in Buchten und Flussmündungen drücken. "Das ist, als ob Sie die gesamte Küstenregion mit einem dicken Malerpinsel bestreichen", sagt Bussau.

Die amerikanische Meeres- und Klimabehörde NOAA betont, der starke Wind könne das Wasser zusätzlich durchmischen und dadurch den biologischen Ölabbau beschleunigen.

Wie lange braucht die Natur an den Küsten, um sich zu erholen?

"Bei Sandstränden geht es sehr schnell", sagt Bussau. "Wenn sie gereinigt werden, haben sie sich schon im nächsten Jahr erholt. Bei den Sumpf- und Feuchtgebieten dauert es etwa drei bis fünf Jahre. Wenn Mangrovenwälder absterben, braucht es zehn Jahre und mehr, bis sich das Ökosystem neu gebildet hat.

Wie viele Tiefsee-Förderprojekte gibt es gegenwärtig weltweit?

Laut Greenpeace existieren mehr als 500 Plattformen, die Öl aus Meerestiefen von mehr als 800 Metern fördern. Die Zahl der Plattformen mit Wassertiefen wie die verunglückte "Deepwater Horizon" (1500 Meter) liegt den Angaben zufolge unter 100.

Wie sind die Ölkonzerne für Unglücke auf Bohrinseln gerüstet?

Völlig unzureichend. Exxon-Chef Rex Tillerson räumte gestern bei einer Anhörung im US-Kongress ein: "Wir sind nicht sehr gut aufgestellt, um damit umzugehen." Der Abgeordnete Henry Waxman warf allen fünf geladenen Konzernen vor, im Notfall lediglich "Maßnahmen von der Stange" zu haben. Exxon verfüge über eine 40-seitige Medienstrategie, die fünfmal länger sei als der Plan zum Schutz der Umwelt.

Welche Folgen kann die Katastrophe auf die Ölwirtschaft haben?

Die Ratingagentur Moody's erwartet weltweite Konsequenzen. Bereits jetzt sind die Fördermengen und Börsenwerte der im Golf von Mexiko aktiven Konzerne erheblich reduziert, auch weil Washington dort weitere Tiefseebohrungen für sechs Monate untersagt hat. Denkbar sei, so Moody's, dass sich Firmen ganz aus dem ölreichen Gebiet zurückziehen. Überdies müsse die Branche generell mit deutlich höheren Kosten für Versicherungen sowie Mieten für Bohrinseln und moderne Technik rechnen. Auch sei zu erwarten, dass strengere Vorschriften der US-Regierung von anderen Ländern übernommen würden. All das wird sich auch auf die Benzinpreise auswirken.