Wen Jiabao verspricht Chinesen weiteres Wachstum. Soziale Spannungen sollen gemindert werden.

Peking. Premier Wen Jiabao wählte erstaunliche Worte. Er stimmte gleich nach der von 3000 Parlamentsabgeordneten gesungenen Nationalhymne in der Großen Halle des Volkes nicht etwa die erwarteten Jubelrufe über das im Weltvergleich phänomenale Abschneiden der chinesischen Wirtschaft an. Im Gegenteil: Er warnte seine Landsleute davor, sich in Sicherheit zu wiegen, nur weil "sich unsere Volkswirtschaft als erste in der Welt von den Folgen der globalen Finanzkrise erholt hat." Zwar konnte Chinas Wirtschaft 2009 "trotz des schwierigsten Jahres in unserer Geschichte mit 8,7 Prozent wachsen", sagte er zum Auftakt der Jahressitzung des Volkskongresses. Aber: "Wir dürfen den Umschwung bei uns nicht als grundlegende Verbesserung der Wirtschaftslage interpretieren."

Der Premier, der seinem Land in diesem Jahr erneut eine Zielvorgabe von acht Prozent Wachstum setzt und neun Millionen neue Arbeitsplätze schaffen will, sprach danach Klartext. Er erwartet 2010 eine "komplizierte Situation." Die alten Rezepte, auf Exporte und Investitionen zu setzen, funktionieren nicht mehr. Für ein innovatives, binnenmarktorientiertes Modell stellt Peking aber erst seit Ausbruch der Krise ernsthaft die Weichen. Der Weg dahin braucht Zeit. 2009 fingen Chinas massive Infrastrukturprogramme, Export- und Agrarsubventionen und die Öffnung des Kredithahns die Krise auf. Die Regierung müsse aber auch noch 2010 weiter stützen, sagte Wen. Weil sie zudem weitreichende Reformen für den Aufbau eines sozialen Sicherungsnetzes finanzieren müsse, werde der Staat 2010 Schulden von umgerechnet 110 Milliarden machen müssen. Tröstlich nur: Mit seinem Rekorddefizit bleibe er unter der kritischen Grenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts - und damit unter dem Verschuldungsniveau vieler westlicher Staaten.

Pekings Geldsegen hat 2009 zwar die Krise gelöst, aber er hat auch neue Probleme geschaffen: Der Premier beklagte die Überproduktion bei einer Reihe von Industrien, "die immer schwerer zu restrukturieren" sei, wachsenden Druck auf den Arbeitsmarkt, während andererseits Billigherstellern die Arbeitskräfte fehlen - oder latente Risiken im Kreditgewerbe. Chinas Banken hatten 2009 rund eine Billion Euro an Krediten vergeben um die Wirtschaft anzukurbeln. 2010 sollen es nicht mehr als 800 Milliarden Euro sein. Das größte Problem bleibe die zu geringe Binnennachfrage, die keine Triebkraft für das Wachstum sei.

Und die Folgen blendete Wen nicht aus: "Dringenden" Handlungsbedarf gebe es beim Entschärfen sozialen Sprengstoffs, der sich bei Wanderarbeitern, Zwangsumgesiedelten, Opfern der Immobilienspekulation und der grassierenden Korruption angesammelt habe, sagte Wen. Zahlreiche Massenproteste hatten sich an Land- und Hausenteignungen oder Einkommensunterschieden entzündet. Wen sagte darum auch der Immobilienspekulation den Kampf an, die für 85 Prozent der Chinesen den Kauf einer Wohnung unerschwinglich macht. Er verlangte auch die Deckelung der Einkommen von staatlichen Topmanagern. "Wir werden entschieden die sich ausweitenden Einkommensunterschiede umkehren." Um die Korruption einzudämmen, will das Politbüro alle hohen Funktionäre zwingen, ihre Einkommens- und Besitzverhältnisse und die ihrer engsten Familienangehörigen vor einer Kontrollbehörde offen zu legen.

Mehr als 200 Millionen Bauern und ländliche Migranten leben mittlerweile mit "Wanderstatus" in Chinas Städten. Sie sind gegenüber Stadtbürgern benachteiligt. Der Premier verlangte ihre rechtliche Gleichstellung, aber "schrittweise und geplant". Ebenso vorsichtig sprach der Regierungschef politische Reformen an. Peking fördert den Ausbau von demokratischen Wahl- und Selbstbestimmungsmodellen, vorerst aber nur auf der untersten lokalen Ebene.