Streit in Washington um den Zweck der Atomwaffen - nur zur Abschreckung oder auch zum vorbeugenden Einsatz?

Hamburg/Washington. Die Vereinigten Staaten stehen vor einer dramatischen Veränderung ihrer Nuklearstrategie. US-Präsident Barack Obama hat die abschließenden Beratungen dazu aufgenommen. Hochrangige Berater des Präsidenten ließen durchblicken, dass die Zahl der Atomsprengköpfe im Arsenal der USA "um mehrere Tausend" verringert würden.

Barack Obama wird dem Vernehmen nach aber gleichzeitig Milliarden Dollar in die Waffen-Laboratorien investieren, um neue, modernere Atomwaffen für ein viel kleineres Arsenal der Zukunft zu entwickeln.

Verteidigungsminister Robert Gates sollte Obama gestern eine Reihe von Vorschlägen für die Formulierung einer neuen amerikanischen Nuklearstrategie unterbreiten. Am Ende könnte dies auch den Abzug der amerikanischen Atomwaffen aus Deutschland einleiten. Der Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz gilt als letzter Standort dafür, unterirdisch sollen dort bis zu 20 taktische Nuklearsprengköpfe lagern. Wie die "New York Times" berichtete, laufen Verhandlungen der US-Regierung mit den europäischen Alliierten über einen Abzug dieser Waffen.

Die genaue Anzahl der Sprengköpfe im Besitz aller neun Atomstaaten ist nicht bekannt, aber es gibt fundierte Schätzungen. Insgesamt verfügen die USA nach Erkenntnissen der Organisation Federation of American Scientists noch über rund 9400 Sprengköpfe. 2700 davon sollen sofort einsatzbereit sein, der Rest liegt in Reserve. Russland unterhält sogar noch rund 13 000 Sprengköpfe, von denen 4840 einsatzbereit seien. Nach Angaben von Experten des "Bulletin of the Atomic Scientists" sind sogar 5520 der amerikanischen und mehr als 7200 der russischen Sprengköpfe grundsätzlich einsatzbereit. Die Arsenale der anderen Atomstaaten sind deutlich kleiner: Frankreich soll rund 300 Köpfe besitzen, China 240, Großbritannien 185, Israel mindestens 80, Pakistan und Indien je 60 und Nordkorea allenfalls eine Handvoll. Nicht einsatzbereite Atomsprengköpfe müssen unter großem Sicherheits- und Geldaufwand gegen Diebstahl und Korrosion geschützt werden. Auch das ist ein Grund für eine Reduzierung.

Zudem wird Obama auf einige Rüstungsprojekte verzichten, die unter seinem Vorgänger George W. Bush angeschoben worden waren. Dazu zählen atomare Bunkerknacker, die tief in die Erde eindringen und dort detonieren. Sie sollten offenbar für mögliche Einsätze im Iran oder in Nordkorea entwickelt werden. Beide Staaten unterhalten verbunkerte Nuklearfabriken.

Die Kernfrage bei der Formulierung einer neuen Nuklearstrategie betrifft jedoch nicht die Anzahl der Waffen - sondern ihren Einsatzzweck. Und um diesen Punkt wird in Washington am heftigsten gestritten. Führende Demokraten wie die prominente kalifornische Senatorin Dianne Feinstein, Vorsitzende des mächtigen Geheimdienst-Ausschusses des US-Senats, haben Obama aufgefordert zu erklären, der "einzige Daseinszweck" des US-Arsenals sei die Abschreckung eines feindlichen Atomangriffs. "Wir stehen unter erheblichem Druck aus unserer eigenen Partei in dieser Sache", erklärten die Berater des Präsidenten der "New York Times". Aber viele Beamte im Pentagon wie auch im Weißen Haus sind anderer Ansicht: Sie wollen, dass Obama erklärt, die Abschreckung sei der Hauptzweck der Atomwaffen - mithin keineswegs der Einzige.

Ihnen geht es darum, der US-Regierung die Option zu erhalten, Nuklearwaffen auch gegen eine Bedrohung mit biologischen oder chemischen Waffen oder aber gegen Feinde einzusetzen, die im Begriff sind, Atomwaffen an Terroristen und Feinde Amerikas zu liefern.

Barack Obama hat sich für eine Welt ohne Atomwaffen ausgesprochen. Nicht zuletzt dafür erhielt er den Friedensnobelpreis - aber auch sehr viel Kritik für seine "Naivität". Teil der neuen Strategie wird daher auch die Entwicklung einer neuen Klasse von nicht nuklearen Waffen mit hoher Zerstörungskraft sein. Sie sollen auf Militärbasen der USA rund um den Globus stationiert werden. Ihr Einsatz, etwa gegen Al-Qaida-Stützpunkte, würde - anders als der Einsatz taktischer Atomsprengköpfe - nicht zu einer Alarmierung etwa der russischen Atomstreitmacht führen.