Heute schaut die Welt auf Südafrika, wenn die Gruppen der Fußball-WM 2010 ausgelost werden. Das Turnier soll dem Land einen beispiellosen Aufschwung bringen, doch entpuppt sich manche Erwartung schon als Illusion. Eine Reportage von Christian Putsch.

Der zerklüftete Parkplatz ist verstopft, es gibt kein Vor, kein Zurück. Eine Stunde ist das Spiel nun vorbei, erstmals seit 26 Jahren haben die Orlando Pirates und die Kaizer Chiefs im Orlando Stadion von Soweto gegeneinander gespielt, jenem legendären, gerade renovierten Stadion an der Mooki Street. Nur ein paar Hundert Meter weiter war 1976 die Wut gegen die Ungerechtigkeit des Apartheid-Regimes entbrannt, mehrere Hundert Jugendliche wurden von Polizisten umgebracht, weil sie in der Schule nicht Afrikaans sprechen wollten, die Sprache der Unterdrücker. Heute sind es die sozialen Unterschiede, die anstelle von Apartheid-Politikern das Land entzweien.

In diesen Minuten aber warten sie alle gleichermaßen darauf, dass sich die Blechmasse entzerren möge. Vuvuzelas tönen, die berühmt gewordenen Plastiktröten des südafrikanischen Fußballs, irgendeiner bläst immer rein. Die Leute stehen auf dem Parkplatz, trinken Bier, laden Fremde ein. Und warten noch mal eine halbe Stunde, bis sich das alles auflösen möge. Es ist Chaos, aber irgendwie fühlt sich das an diesem Ort gar nicht so schlimm an.

Besuche bei Spielen der südafrikanischen Liga lehren recht viel über den Charme, aber auch die Probleme dieser ersten Weltmeisterschaft auf afrikanischem Boden. Bei den meisten südafrikanischen Spielen kaufen die Fans am Morgen in den Supermärkten ihre Tickets, gerade einmal 1,80 Euro kostet eines. Am Nachmittag gehen sie zum Spiel, man parkt halt irgendwie, Zeit ist in Afrika ein dehnbarer Begriff.

Da überrascht es nicht, dass der Weltverband Fifa mit seinem komplizierten, auf Internet basiertem Ticketvergabesystem bislang auf Probleme stößt - die Nachfrage aus dem Ausland läuft gut, aber die der Gastgeber liegt unter den Erwartungen. "Es hat etwas mit der Kultur zu tun, sehr spät Tickets zu kaufen", sagt der lokale Organisationschef Danny Jordaan. Er weiß, dass vielen Fans oft schlicht der Internetzugang fehlt. Um den Verkauf zu erleichtern, stellt die Fifa jetzt Ticketcenter in den Spielorten auf und richtet ein Callcenter ein. Operation Hoffnung.

Jordaan sagt, die Nachfrage werde deutlich anziehen, an diesem Sonnabend kommen eine Million Tickets für die nächste Verkaufsphase auf den Markt. Heute Abend (18 Uhr, ZDF) werden die Gruppenspiele ausgelost. Wenn Oscar-Gewinnerin Charlize Theron die letzte der 32 Kugeln gezogen hat, stehen die Paarungen der 48 Gruppenspiele fest. Die südafrikanischen Fans wollen vor dem Kauf wissen, welche Mannschaften sie wo sehen werden, sagt Jordaan. Ein Hinderungsgrund aber bleibt, trotz Hunderttausender Benefiz-Tickets der Fifa, die an Bedürftige gehen sollen: Mit umgerechnet 13 Euro kostet selbst die subventionierte, ausschließlich Südafrikanern vorbehaltene Kategorie mehr, als viele als Tageslohn bekommen.

Doch Südafrikas Staatspräsident Jacob Zuma (67), als Freizeitkicker einst ein gefürchteter Innenverteidiger, hat die WM zur nationalen Mission erhoben. Die Unterstützung der eigenen Mannschaft Bafana Bafana war zuletzt ähnlich schwach wie deren Leistung, sodass Zuma einen Appell startete: "Tragt am Freitag das Trikot unserer Mannschaft und zeigt, dass ihr sie unterstützt!" Was zur Folge hat, dass kurz vor dem Wochenende inzwischen unter vielen grauen Anzügen ein knallgelbes Trikot leuchtet.

Vehement investierte die Regierung nach dem WM-Zuschlag in den Ausbau der Infrastruktur. Besonders im Wirtschaftszentrum Johannesburg bekommt man das Gefühl, einen zweiten Goldrausch zu erleben in der einst wegen seiner Goldminen expandierenden Stadt. Alles wird umgegraben. Die Autobahn N1, die zwischen Johannesburg und Pretoria bis zu 160 000 Autos täglich befahren, wirkt nun besonders wie ein Nadelöhr. Neben einem seit Jahrzehnten gehegten Traum ist die WM für viele Südafrikaner auch eine Geduldsprobe.

Howard Mazibuko weiß noch nicht so recht, ob er sich auf die WM freuen soll. Mit einem kleinen Bauchladen steht der 42-Jährige zwischen den fast leeren Reihen des Stadions von Atteridgeville, einem Township am Rande der Hauptstadt Pretoria. Auf dem Rasen verliert Südafrika gerade gegen Serbien mit 1:3, doch Mazibuko ist wegen der Erdnüsse hier, die er für sechs Rand (rund 50 Cent) pro Tüte verkauft.

Zu drei bis vier Fußballspielen pro Woche reist der Mann aus Soweto, manchmal 100 Kilometer weit. Dann verkauft er 90 Minuten lang. An guten Tagen bleiben 300 Rand übrig für ihn, knapp 30 Euro. Aber wie so viele hat er die WM mit Erwartungen überfrachtet. "Ich bin Fußballfan, seit ich denken kann", sagt der Verkäufer, "natürlich habe ich tagelang gefeiert, als wir die WM bekamen. Aber ich habe Sorge, dass ich bei der WM nicht verkaufen kann. Man muss sich bewerben, aber es soll sehr schwer sein, einen Job an den Stadien zu bekommen." Für vier Wochen übernehmen die Regulierungsprofis der Fifa das Fußball-Kommando in Südafrika.

Das Spiel mit den Hoffnungen der Menschen gehört durchaus zum Risiko dieses Turniers - für Millionen haben sich die Lebensverhältnisse nach dem Ende der Apartheid nicht in gewünschtem Maße verändert, die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in den vergangenen 15 Jahren nur noch größer geworden. Das beachtliche wirtschaftliche Wachstum Südafrikas in den vergangenen Jahren nützte überproportional einer relativ kleinen Elite. Mit der WM, so die Befürchtung, wird es genauso sein, man habe den wirtschaftlichen Nutzen überschätzt.

Doch immerhin 415 000 Jobs, so haben die Wirtschaftsberater der Firma "Grant Thornton ermittelt, sind durch die WM-Vorbereitungen entstanden. Wie viele davon nach der WM übrig bleiben, ist fraglich - ebenso wie die Nutzung der zehn Stadien. Fünf von ihnen wurden neu gebaut, sie sind auf Weltklasse-Niveau. Doch die örtliche Liga erreicht gerade einmal einen Schnitt von 10 000 Zuschauern pro Spiel. Und viele Teams der besser besuchten Rugby-Spiele vertrauen auf ihre eigenen Arenen.

Eines aber ist sicher: Für Südafrika und den ganzen Kontinent ist das Turnier eine große Chance: Weg von Armut, Hunger, Korruption und - im Falle von Südafrika besonders - Kriminalität, hin zum Bild eines Landes, in dem es sich für international agierende Unternehmen auch über 2010 hinaus lohnt, zu investieren.

"In diesem Turnier ist eine große Kraft", sagte Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon, als die Generalversammlung vor einigen Wochen in New York eine Resolution zur Unterstützung der WM verabschiedete: "Es ist an der Zeit, eine andere Geschichte des afrikanischen Kontinents zu präsentieren. Eine Geschichte des Friedens, der Demokratie und des Investments." Eine WM als Image-Kampagne.

Langsam spüren immer mehr Menschen, dass die Bedeutung der WM 2010 weit über den Sport hinausgeht. Daraus entsteht eine ungeheure Faszination - für Thomas Richter zum Beispiel. Der Torhüter des einstigen Zweitligisten SV Wehen Wiesbaden ist vor einem halben Jahr nach Witbank, östlich von Johannesburg, gewechselt. Sein neuer Verein Mpumalanga Black Aces stieg gerade in die Erste Liga auf.

Mit verkehrt herum aufgesetzter Baseball-Mütze kommt Richter aus der Kabine. Im Hintergrund qualmt eines der vielen Kohlekraftwerke der Gegend. Das Vormittagstraining ist überstanden. Für die zwei Stunden bis zur Nachmittagseinheit hat ihm der Zeugwart ein Sandwich mitgegeben. Eine Atmosphäre wie in einem Familienbetrieb.

Es war eine fremde Welt, in die Richter eintauchte. Er sah, wie ein christlicher Priester nach der Mannschaftsansprache des Trainers mit den Spielern betete. Oder wie die Profis vor dem Spiel Salz auf den Rasen streuten. "Das bringt Glück."

Die Freundlichkeit der Menschen, die Gespräche, die Eindrücke, sie brennen sich ein. Es ist das Land, das Richter lockte. Er wollte unbedingt nach Südafrika, in die junge Demokratie, auch als ein anderer Verein zunächst absprang und die Arbeitserlaubnis auf sich warten ließ. "Ich hätte dafür auch etwas anderes als Fußball gemacht, die Karriere unterbrochen", erzählt der angehende Betriebswirt, "dann hätte ich mich vielleicht in einem der Hilfsprojekte engagiert."

Es ist wohl diese Anziehungskraft, die der WM 2010 ihre Faszination geben wird. Für sie gibt es weder Statistiken noch Zahlen.