Zwei heftige Erdbeben erschütterten vor wenigen Tagen das japanische Inselreich. Es gab hier und da Verletzte und leichtere Sachschäden. Doch das politische Erdbeben, mit dem Wahlforscher fest rechnen, könnte die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Erde nachhaltig erschüttern.

Hamburg/Tokio. Am Sonntag sind Parlamentswahlen - und es könnte zum ersten echten Machtwechsel in Tokio seit mehr als einem halben Jahrhundert kommen.

Üblicherweise ist der Wahlausgang in Japan so überraschend wie der Sonnenaufgang: Mit einer kurzzeitigen Unterbrechung 1993/94 regiert die Liberaldemokratische Partei seit 54 Jahren. Die LDP gilt als Inbegriff der politischen Verkrustung und der ausgefeilten Klientelwirtschaft; die De-facto-Staatspartei stellte im Laufe der Jahrzehnte weitgehend die politische Nomenklatura Japans und erfreute sich fruchtbarer Bande zur Großwirtschaft sowie zur Bauern- und Baulobby. Lange ging dies gut, denn Japan war eine geradezu beängstigend zugkräftige Wirtschaftslokomotive und ein Technologie-Gigant.

Doch aus dem einstigen "Modell Japan" droht ein Auslaufmodell zu werden. Die Gesellschaft ist überaltert - bis 2025 wird fast ein Drittel der Japaner über 65 sein - das Rentensystem marode. Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordkurs; die Verschuldung beträgt 170 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die rüde Deregulierung des Arbeitsmarktes durch die LDP hat ein Drittel der Arbeitsstellen zu unsicheren Zeitarbeitsplätzen gemacht. Die Wut von Millionen Japanern als Krisen-Verlierer ist groß.

Und der LDP sind die zündenden Ideen längst ausgegangen; seit 1989 hat sie 14 Regierungschefs verschlissen.

In dieser trüben Lage greift ein Mann nach der Macht, der etwas überschwänglich als Kennedy oder Obama von Japan etikettiert wird - obwohl sein Charisma nicht eben funkelt. Aber man erhofft sich von Yukio Hatoyama obamaschen Reformwillen. Hatoyama ist Mitgründer und Chef der Demokratischen Partei Japans (DPJ). Und die könnte nach Umfragen am Sonntag 300 der 480 Sitze im Tokioter Parlament gewinnen. Für die einst übermächtige LDP des ungeliebten Premiers Taro Aso werden nur noch 100 Sitze prognostiziert.

Die DPJ gilt im Vergleich mit der LDP als linksliberal; doch der 62-jährige Hatoyama ist nach Stammbaum und Werdegang alles andere als Sozialrevolutionär. Er stammt aus einer alten Samurai-Familie, die seit Jahrzehnten in Japan gewaltigen Einfluss besitzt, und war bis 1993 selber LDP-Politiker. Sein Urgroßvater war Parlamentspräsident, sein Großvater Premierminister und Mitgründer der LDP. Hatoyamas Vater war Außenminister, sein jüngerer Bruder Innenminister. Und seine Mutter ist eine Tochter von Shojiro Ishibashi, der den weltgrößten Reifenhersteller Bridgestone gründete. Über die Ishibashis ist Hatoyama unter anderem mit den Familien der früheren Premiers Kiichi Miyazawa und Hayato Ikeda verwandt. Der Hintergrund seiner Frau Miyuki ist dagegen fast orchideenhaft exotisch: Sie war früher Mitglied der Frauen-Musiktheaterkompagnie Takarazuka Revue.

Die Japaner, ermüdet vom ewigen Lobbyismus der LDP, wollen den Wandel. Und der "Obama von Japan" will in der Tat umwelt- und sozialpolitisch ganz neue Akzente setzen; CO2-Emissionen senken, eher den Familien helfen als der Großindustrie und nicht zuletzt den gusseisernen Beamtenapparat reformieren.

Doch Hatoyama dürfte auf eine Koalition mit den Sozialdemokraten (SPJ) angewiesen sein, die politisch eher der deutschen Linkspartei ähneln. Wie ein Abkömmling der Samurai-Elite zusammen mit Linken die Pfründen der eigenen konservativen Machtelite umverteilen will - das wird mit Interesse zu verfolgen sein.