Noch nie waren am Hindukusch so viele Wähler registriert, noch nie so viele Kandidaten. Und selten war die Angst so groß: Mit ihren jüngsten Anschlägen demonstrieren die Taliban Stärke.

Kabul. Am Montag, drei Tage vor den Wahlen, kommt der Kriegsfürst nach Kabul. Dostum ist da, sagen die Leute, und vielleicht liegt es an ihm, dass die Straßen so leer sind. Sonst ist kein Durchkommen zwischen Handkarren, Militärkolonnen, Ziegenherden und Toyota-Taxis. Aber an diesem Tag lassen die Kinder auf den Straßen Drachen steigen. Dostum war im Exil, sagen die Leute, aber nun werde er Karsai unterstützen und dürfe zurückkehren. Es ist eine schöne Überraschung für die einen. Es bedeutet, dass der Usbeke Dostum den Seinen befehlen wird, für den Präsidenten zu stimmen. Und die Usbeken sind zahlreich, und Karsais Macht wankt bedrohlich. Doch für jene, die erlebt haben, wie grausam der Krieger sein kann, ist es eine böse Überraschung. Abdul Rashid Dostum hat Massenmorde angeordnet. Darf so ein Mann für ein paar Stimmen in Gnaden wieder aufgenommen werden?

Am Donnerstag wählt Afghanistan. 3197 Kandidaten stellen sich als Provinzräte zur Wahl, und rekordverdächtige 36 Kandidaten wollen Präsident werden. Es wird eine der am meisten beachteten Wahlen der Welt sein. Manche glauben, in diesem Land könne die Demokratie noch über den Terror siegen. Andere halten die Wahlen nur für eine Fassade, hinter der Gewalt und Chaos längst gewonnen haben. Später in dieser Geschichte wird ein kluger Mann von einem "ziemlich gemischten Bild" sprechen. Das kann etwas Gutes bedeuten, aber auch etwas Schlechtes.

Hubschrauber donnern über Kabul, und manchmal sieht man sie rot und weiß blitzende Kugeln ausstoßen, die wärmegelenkte Raketen ablenken sollen. Außerdem schwebt seit Tagen ein Zeppelin am Himmel, angeblich mit Überwachungstechnik ausgestattet, etwa um flüchtende Attentäter zu verfolgen. Die Besatzung dürfte beschäftigt sein. Am Freitag macht noch die Nachricht die Runde, dass man Taliban-Führer im Süden zum Waffenstillstand überredet hat. Doch am Sonnabend geht in der Hauptstadt, direkt vor dem Hauptquartier der Nato-Schutztruppe Isaf, eine Autobombe hoch. Sieben Tote, 90 Verletzte. "Wir werden die Wahlen stören, wo es nur geht", hatte ein Taliban-Sprecher angekündigt.

3000 Esel sollen die Wahlzettel ins Gebirge bringen

Sonnabend, fünf Tage vor den Wahlen. Mumena Yari sitzt im dunkelblauen Anzug an ihrem Schreibtisch, trappelt nervös mit dem Fuß auf den Boden und versucht, möglichst keimfreie Antworten zu geben. Sie ist um die 30, mit einem breiten Gesicht und schmalen Augen, das hellblaue Kopftuch zieht sie immer enger um die Ohren. Draußen auf dem Gelände, das geschützt wird wie Fort Knox, lagern in weißen Containern Millionen Wahlzettel. Bald werden sie auf die 3000 Esel geladen, die als Wahlhelfer engagiert wurden, um die Demokratie ins Gebirge zu schaffen.

Yari ist eine der sieben Kommissare der Unabhängigen Wahlkommission Afghanistans, die nicht unabhängig ist, weil Amtsinhaber Karsai sie ernannt hat. Und nun heißt es, Millionen gefälschter Wählerregistrierungskarten seien auf dem Schwarzmarkt unterwegs. Yari versucht tapfer ein Pokerface und sagt: "Ich weise die Behauptung total zurück." Mehrfachwahlen seien unmöglich, wegen der blauen Tinte, mit der man Wählern den Finger markiere. Diesmal werde die Farbe halten. "Wir kaufen nicht mehr in Indien. Diese Tinte haben Kanadier gemacht."

Gegen die Omnipräsenz der modernen Technik kommt staatliche Propaganda in Afghanistan nicht mehr an. Vor dem Eingang zum City Center, einem grüngläsernen Komplex in der Neustadt, steht ein junger Mann in Jeans und neongelbem Hemd, das Handydisplay dicht vor Augen, und muss sich schier totlachen. Irgendjemand hat einen Auftritt von Bodrak mitgeschnitten, dem Kabarettisten, und per MMS versandt. Bodrak spielt einen Politiker im Wahlkampf. "Wenn ich gewählt werde, verspreche ich, zuerst mir selbst zu dienen, dann meinen Freunden und dann anderen Leuten. Eure Stimme bedeutet Auslandsreisen für mich!" Japsend vor Lachen setzt der Neongelbe sich auf die Erde. Wählt er? "Wen sollte ich wählen?", fragt er und verzieht den Mund. "Es wäre wie eine Sünde zu wählen! Das sind alles Kriminelle - alle im Bund mit Kriegsherren und Drogenleuten. Wir sind arbeitslos, die Lebensmittelpreise steigen, die Aufständischen machen, was sie wollen. Und die Politiker tragen 100-Dollar-Hemden."

Die Medienkommission hat zur Debatte geladen. Sie wird auch im Fernsehen übertragen. Einer der beliebtesten Präsidentschaftskandidaten, Ramazan Bashardost, ein Mann von der Volksgruppe Hazara mit typischem Dschinghis-Khan-Gesicht, der etwa zehn Prozent der Stimmen bekommen könnte, sitzt dem Konkurrenten Mohammad Sarwar Ahmadzai gegenüber. Die beiden mögen einander nicht besonders. Bashardost fällt auf, weil er statt gepanzerter Jeeps lieber bescheidene Minibusse benutzt, Ahmadzai wegen seiner eleganten Kleidung. Gerade hat er gesagt, er würde mit den Taliban verhandeln und ihnen Gouverneursposten anbieten. Sarkastisch hebt Bashardost an: "Nehmen wir also mal an, Mullah Omar ist ein Gouverneur in Herrn Ahmadzais Regierung ..." Ahmadzai stockt der Atem vor Wut, als der Name des obersten Taliban fällt. Er steht auf, packt seine Wasserflasche und schlägt damit in Richtung Bashardost. "Ich bin ein stolzer Paschtune! Sag nichts über die Taliban und Mullah Omar! Sie sind meine Brüder!" Bashardost sagt eisig: "Wenn Mullah Omar dich mit deiner Krawatte und deinem Anzug sähe, würde er dich töten."

Die Frauenbewegung will 50 Prozent der Stimmen

Fünfzig Prozent wollen sie. 50 Prozent der Jobs, 50 Prozent der Parlamentssitze, 50 Prozent der Staatsausgaben. Für die Frauen. Für 50 Prozent der Bevölkerung. Es ist eine mutige Forderung in einem Land, das ein Gesetz erlassen hat, das die Frau zum Beischlaf mit ihrem Ehemann zwingt. Golalai Habib ist eine der Anführerinnen der afghanischen Frauenbewegung, eine kleine, gedrungene Frau mit hübsch alterndem Gesicht. Im April hat sie "50 Prozent" zusammen mit Frauen aus Nichtregierungsorganisationen und sozialen Einrichtungen gegründet. Sie wollen den Politikern Dampf machen. Am Sonnabendnachmittag hat Habib zu sich nach Hause eingeladen, nach Mikrorayon 3, einer der Plattenbausiedlungen Kabuls. Sie wohnt zusammen mit vier Kindern und ihrem Mann in drei Zimmern. In einem Zwei-Quadratmeter-Kabuff, neben dem Wohnzimmer, produziert sie eine der wenigen Frauenzeitungen des Landes, "Dunya-e Zan".

Es gibt Wasser mit Vitamintablette. Auf dem Couchtisch liegt ein dicker Band. Simone de Beauvoir. "Chatarat", Beauvoirs Tagebuch-Aufzeichnungen. Es gab sie auch vor 30 Jahren schon auf Dari, einer der Landessprachen Afghanistans. Golalai Habib war damals 24 und empört über all das, was sie nicht durfte. Simone habe sie bestärkt. Golalai sagt, sie sei reingewachsen in das Dasein als Aktivistin. Das ergibt sich leicht in Afghanistan. Auch während der Taliban-Zeit habe sie nie eine Burka getragen. Sie hebt einen nackten Fuß über die Couchtischkante und zeigt ihren großen Zeh. Da hätten sie zur Strafe mit einem Knüppel draufgehauen. Er schmerze heute noch manchmal.

Golalai Habib ist eine bekannte Frau. Sie spricht öfter mit den Spitzenkandidaten, und dann fragt sie sie, wie sie es mit den Frauenrechten halten. Alle sagten: Aber ja, die Frauenrechte, sehr wichtig. Golalai lacht. Bisher glaubt sie nur Ashraf Ghani. Karsai sei ein Opportunist, sagt sie. Und Abdullah Abdullah kennt sie noch aus den 80ern, aus seiner Zeit bei der Partei Jamaat-e-Islami, einer religiösen Partei, die "ziemlich seltsame Ideen über Frauen" verbreitet habe. Etwa dass sie nicht laut lachen dürften in der Öffentlichkeit. "Und sie haben uns aus allen Medien vertrieben. Ein Mann, der dort mitgemacht hat, glauben Sie, der ändert sich sehr?"

Ihr Favorit Ghani wird nicht gewinnen. Trotzdem glaubt Golalai Habib an den Fortschritt. Vor vier Jahren hätten die Menschen nur eines gewollt: einen Mann, der Frieden bringt. Diesmal wollten sie schon viel mehr, sagt Habib, und das sei doch gut. Jetzt wollten sie auch Frauenrechte, Redefreiheit, Arbeit und ein bisschen Geld. Das Bewusstsein, dass man Rechte hat, das sei ein wichtiger Schritt zur Demokratie, sagt sie. Sie geht zum Abschied alle fünf Treppen wieder mit hinunter, trotz des schmerzenden Zehs. "Komm morgen im Interconti vorbei", sagt sie, "da rufen wir alle Frauen auf, wählen zu gehen."

Im Basar verteilen Wahlkämpfer Visitenkarten

Diesmal ist es ein echter Wahlkampf - zumindest in den großen Städten. Durch Kabul fahren Lastwagen, die über und über mit dem Gesicht von Kandidaten geschmückt sind, und von den Ladeflächen werfen Kinder den Autofahrern Poster ins Fenster. Im Basar sitzen Wahlkämpfer auf Klappstühlchen und verteilen Visitenkarten ihrer Kandidaten. Die Mauern sind bepflastert mit Wahlplakaten. Für Analphabeten prangt neben dem Gesicht ein Symbol. Man kann vier Eistüten wählen, zwei Bratpfannen, eine Burg oder vier Nachttischlampen. Einer präsentiert sich mit Fleischwolf. Die Abgesandte einer deutschen politischen Stiftung sitzt in einem der schönen Kabuler Gärten. Sie ist gerade vom Land zurückgekehrt, wo sie versucht hat, angehenden Provinzräten das Wahlkämpfen zu erklären. Von Haus zu Haus zu gehen und mit Wählern zu sprechen, das war denen nicht schmackhaft zu machen, seufzt sie. Das sei gegen die Kultur. Stattdessen macht man lieber "die wichtigen" Termine. Die bei den Stammesführern. Wieso mühsam Einzelne überzeugen, wenn doch der Chef alle verdonnern kann?

"Es ist ein ziemlich gemischtes Bild, das dieser Wahlkampf abgibt", sagt ein Afghanistanexperte. Es ist kritisch gemeint. Aber: Gemischt ist wenigstens gemischt. Man kann es auch positiv sehen, sagt Golalai Habib: "Schlechte Wahlen sind besser als keine Wahlen, und die nächsten werden besser sein als diese, so wie diese besser werden als die letzten." Es mag Wahlbetrug geben, Demonstrationen, Tote. Da ist die Furcht vor dem großen Knall, dem großen Attentat. Aber die jungen Afghanen wachsen auf mit Fernsehen und Internet, mit Frauen wie Golalai Habib und Kabarettisten wie Bodrak, und sie werden Forderungen stellen.