Intellektuelle solidarisieren sich mit Professor Ilham Tohti. Er wurde drei Tage nach Ausbruch der schweren ethnischen Unruhen in Urumqi festgenommen.

Peking. Der Anruf kam nach Mitternacht. Bei Huang Zhangjin, einem Journalisten, der für ein Online-Magazin arbeitet, meldete sich sein Freund, der uigurische Ökonom Ilham Tohti, der am Pekinger Minderheiteninstitut (Minzu Daxue) als Hochschullehrer arbeitet. Tohti befürchtete an diesem Mittwoch früh, den 8. Juli, von den Staatsschutz-Behörden jeden Moment abgeholt zu werden "Das ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass du meine Stimme hörst." Er hätte Grund, seine Verhaftung zu befürchten: In einer Fernsehansprache im fernen Xinjiang habe der dortige uigurische Regierungschef Nur Bekri ihm namentlich vorgeworfen, auf seiner Webseite "Uygurbiz.cn" zu gewalttätigen Unruhen aufgehetzt zu haben. "Das ist ungerecht. Ich habe das nie gemacht. Ich könnte nie jemanden dazu aufstacheln. Gewalt und Hass bringen niemandem Vorteile."

Der 39-jährige Vizeprofessor, der am Wirtschaftsinstitut von Pekings Minderheiten-Universität über internationalen Verrechnungsverkehr unterrichtet, wurde kurz nach seinem Telefonat abgeholt, drei Tage nach Ausbruch der schweren ethnischen Unruhen in Urumqi, bei denen nach jüngsten Zahlen 192 Menschen starben. Ilham Tohti verschwand aber nicht, ohne dass es jemand bemerkte. Die Nachricht kursierte sofort im Internet und brachte viele Unbekannte zusammen. Viele unterschrieben, als der für seine Zivilcourage bekannte Pekinger Autor Wang Lixiong und seine tibetische Frau Tsering Woeser einen Online-Aufruf für die Freilassung Tohtis veröffentlichten. Mehr als 300 Autoren, Wissenschaftler, Journalisten, von denen die meisten innerhalb Chinas leben, haben bisher den Online-Brief zur Freilassung Tohtis unterschrieben, sagte Tsering Woeser.

Der Ökonom Tohti, der Chinesisch, Englisch und Koreanisch spricht, Japan und Südkorea bereiste, hatte sich auf seiner viel gelesenen Webseite immer wieder kritisch über die Sozial- und Nationalitätenfrage in Xinjiang geäußert. Er galt als Stimme der Mäßigung und Gegner aller Gewalt.

Dies bestätigt auch sein Freund Huang Zhangjin, mit dem Tohti zuletzt telefonierte. Er veröffentlichte im Internet einen 21-seitigen Bericht, der bis Mittwochabend noch aufgerufen werden konnte, unter dem Titel: "Auf Wiedersehen Ilham Tohti". Er beschreibt darin, wie Tohti ihm mit Rollenspielen zu erklären versuchte, warum so viel Zorn unter den Uiguren herrscht. Han-Chinesen und Uiguren seien wie zwei Brüder, wobei die Han als großer Bruder dem kleineren immer gesagt haben, dass er mehr Platz brauche.

Die Uiguren im riesigen Xinjiang hätten ihm den Platz eingeräumt. Sie akzeptierten etwa die von Peking 1954 eingerichtete, gigantische "Produktions- und Aufbaukolchose" (Bingtuan), wo heute auf über 70.000 Quadratkilometern über zwei Millionen vorwiegende Han-Chinesen wie in einer eigenen Kleinstprovinz lebten. Der große Bruder konnte auch Rohstoffe nach Belieben ausbeuten, holte aus Xinjiang Öl, Kohle, Gas, Baumwolle. Der kleine Bruder verlangte nicht mal nach einer Extra-Belohnung. Aber Peking müsse verstehen, wie sehr es die Uiguren aufbringe, wenn es ihnen nun vorrechnet, wie viel Geld die Zentralregierung zu ihrer Entwicklung ausgebe und sie ihr dafür auch noch dankbar sein müssten.

Die Uiguren ärgere es auch nicht, wenn der weiterentwickelte große Bruder seine Bergbau- oder Industrieprojekte überall aus dem Boden stampfe. Aber sie würden zornig, wenn sie nicht mal für einfachste Arbeiten herangezogen werden, weil auch dafür chinesische Arbeitskräfte geholt werden.

Tohti, so schreibt Huang Zhangjin, habe sich aber trotz aller Ungerechtigkeiten nie für eine Unabhängigkeit Xinjiangs ausgesprochen, sondern sie entschieden abgelehnt. Der wahre Grund für die "heutige Lage der Uiguren" sei in seiner Sicht der "Mangel an Demokratie und Freiheit, die auch in ganz China fehlen. Nur wenn die Han-Chinesen sich ihren Wunsch nach Demokratie und Freiheit erfüllen, werden diese auch für die Uiguren möglich werden."