Das System lässt den Ideen und Wünschen der Jugend keinen Raum, hat der Hamburger Journalist Volker Skierka auf einer Kuba-Reise festgestellt. Zum Jubiläum zieht er Bilanz und wagt einen Ausblick.

Verurteilt mich; das hat nichts zu bedeuten; die Geschichte wird mich freisprechen." Als Fidel Castro diesen berühmt gewordenen Satz den Richtern zurief, die ihn einst zu 15 Jahren Haft verurteilten, war er 27 Jahre alt und auf dem Weg ins Gefängnis. Zwar war er ein Held, aber ein gescheiterter. Mit über 100 Getreuen hatte er am 26. Juli 1953 vergeblich die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba, die zweitgrößte des Landes, gestürmt, um eine Revolution gegen den mit der Mafia liierten Präsidenten und Statthalter Washingtons, den Diktator Fulgencio Batista, zu entfachen. Fünfeinhalb Jahre nach Moncada war er am Ziel: In der Silvesternacht 1958 hastete ein besiegter Batista mit seiner engsten Entourage aus Familie und Verbrechern sowie der Staatskasse im Reisegepäck zum Flughafen und machte sich davon.

Wie ein Messias stieg Stunden später der ehemalige Jesuitenschüler und promovierte Jurist Fidel Castro mit seiner bärtigen Truppe, den Barbudos, von den Bergen herab und ließ sich feiern. "Dieses Mal", rief er aus, "wird die Revolution wirklich an die Macht kommen. Es wird nicht sein, wie 1898, als die Amerikaner kamen und sich zu den Herren des Landes machten." Kuba gehörte jetzt ihm, dem Sohn eines Großgrundbesitzers aus Biran.

Minuswachstum von 34 Prozent So ist es bis heute geblieben. Ein halbes Jahrhundert hat Castro mitgemischt in der Weltpolitik und dabei 640 Versuche und Pläne, ihn zu ermorden, überlebt. Generationen amerikanischer Präsidenten, sowjetischer Generalsekretäre, Staats- und Regierungschefs, Potentaten und Päpste kamen und gingen, er aber blieb. Zwar schienen mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa auch die Tage der kubanischen Revolution gezählt. Doch sie überlebte, obwohl die Wirtschaft mit einem unvorstellbaren Minuswachstum von 34 Prozent einbrach.

Inzwischen kämpft der 82 Jahre alte Patriarch seinen letzten Kampf: den gegen Krankheit und Tod. Die Amtsgeschäfte hat er an den fünf Jahre jüngeren Bruder Raúl abgegeben. Seither lebt das Volk in einer Zeit des Übergangs vom "Fidelismus" zum "Raúlismus", von der niemand weiß, wie lange sie andauern und was sie bringen wird.

Wer in den Provinzen von Guantanamo im Osten bis Pinar del Rio im Westen die Menschen fragt, wie es ihnen so gehe, bekommt meist die Antwort "regular" zu hören. Regular bedeutet "so lala". In der Hauptstadt Havanna, wo Galgenhumor die tägliche karge Mahlzeit würzt, hört man oft ein lachendes "vivo", ich lebe, manchmal ein "sobrevivo", ich überlebe. Jene, die schon viele Revolutionsjahre auf dem Buckel haben, lassen eher ein "die Dinge gehen ihren Gang wie immer" hören. Und dann gibt es noch das verniedlichende "igualitico". Das ist eine ironische Metapher für Stillstand.

1000 Kilometer von Havanna und rund 100 Kilometer von Biran, dem Geburtsort der Castro-Brüder entfernt, liegt Baracoa, eine verträumte Küstenstadt am östlichsten Zipfel der Insel. Wo 1492 Christopher Kolumbus landete und sein Kreuz aufpflanzte, blickt 516 Jahre später der Zimmervermieter Andres Cruzata von der Dachterrasse seines Häuschens über den Ort hinweg aufs weite Meer und antwortet auf die Frage, wie sein Leben und das seiner Familie so sei, mit einem beinahe trotzigen "tranquilo". Ruhig. Es ist die hiesige Version von "regular".

Tranquilo, sagt der gut genährte Mulatte, das sei für ihn ein Mensch, "der hilfsbereit ist und anderen Menschen keinen Ärger macht". So spricht einer, der 1953, als Fidel Castro in Santiago de Cuba noch vergebens gegen die Moncada-Kaserne anstürmte, zur Welt kam und Zeit seines Lebens mit nichts anderem als der Revolution der Castros gelebt hat. Einer, der ihr immer zu Diensten war. In den 80er-Jahren sogar als Soldat in Kubas Stellvertreterkrieg für die Sowjetunion in Angola. Jetzt erlaubt die Revolution dem Vater von drei Kindern, die Bèletage des Häuschens an Touristen zu vermieten und ihnen auf der Terrasse Langusten zu servieren. Sehr viel mehr kann er vom Leben nicht erwarten. Er scheint zufrieden.

Der 27-jährige Sohn Alexander, der noch bei den Eltern lebt, scheint sich vom Leben noch etwas mehr zu erhoffen und versteht unter "tranquilo" einen vorläufigen Zustand: "Tranquilo bedeutet für mich: Es möchte einer etwas unternehmen, doch die Umstände erlauben es nicht. Also muss er Geduld haben. Er muss sich sagen: Warte noch ein wenig, dann wird sich schon alles regeln." Aber der schüchterne junge Mann hat nicht allzu hohe Erwartungen: "Selbst wenn es jetzt unter Raúl Castro Veränderungen geben sollte - Spektakuläres wird nicht passieren." Irgendwie wirkt Alexander nicht glücklich. Wie eine Mahnung leuchtet in roten Versalien von einer weiß getünchten Mauer an der Ortseinfahrt von Baracoa das Fidel-Zitat: "Wenn die Jungen scheitern, wird alles scheitern. Fidel".

Aufzubegehren, zu protestieren wie die Jugend in Europa, das läge Alexander Cruzata und seinen Freunden so fern wie der Mond. Er hat etwas Passives. Würde er aufbegehren, brächte es ihn nicht weiter, sondern nur Unglück über die Familie, welche auf Kuba - anders als in Europa - immer noch sehr eng zusammensteht. Sie ist gerade in den ländlichen Regionen so fest in die in 50 Jahren gewachsene soziale Kontrolle der Nachbarschaft eingezwängt, dass ein Ausscheren eine Isolation der Eltern und eine Gefährdung des Erreichten nach sich zöge.

Ziemlich tranquilo verläuft in Baracoa auch das Wochenendbesäufnis zweier Hundertschaften gelangweilter Jugendlicher auf der schwach beleuchteten Strandpromenade, dem Malecón. Diese Art von Versammlungen junger Menschen, die mit der Dose "Cristal"-Bier und der Rumflasche nur "abhängen", sind seit einiger Zeit landesweit in Mode. Und werden von Polizei und Geheimdienst argwöhnisch beäugt. Vor allem in Havanna. Als es dort 1994 am Malecón zu einem Aufruhr unzufriedener junger Leute kam, vermochte ihn Fidel Castro allein durch sein Erscheinen zum Verstummen zu bringen. Aber Raúl? Er verfügt nicht über dieses Charisma, das andere kuschen ließe. Er müsste wohl einige Hundertschaften Polizei mitbringen.

Ex-Revolutionär redet Tacheles Szenenwechsel. Weit weg vom morbiden Charme des alten Havanna, in einem schmutziggrauen Plattenbau im Westen der Hauptstadt, lebt Eloy Gutierrez Menoyo. Sein Wohnzimmer im fünften Stock liegt nur ein paar Kilometer von Fidel Castros Wohnsitz sowie jener abgeschirmten Klinik im feinen Diplomatenquartier Siboney entfernt, wo der Maximo Líder derzeit betreut wird. Der schmächtige Mann mit der großen Brille ist nicht irgendwer. Zehn Jahre jünger als Fidel Castro, bekleidete er vor einem halben Jahrhundert ebenfalls den Rang eines Commandante, als er Revolutionstruppen in Zentralkuba befehligte. Nachdem die Castro-Brüder sich nach dem Sieg der anfangs eher bürgerlichen Revolution dem Sowjetkommunismus zuwandten, wandelte sich Gutierrez Menoyo zum Regimegegner. 22 Jahre verbrachte er bis Mitte der 80er-Jahre wegen eines Umsturzversuchs im Gefängnis.

Jetzt sitzt er 72-jährig in seinem karg möblierten Wohnzimmer und kritisiert mit mächtig tönender Stimme, dass niemand im Lande protestiere. "Es gibt keine Protestkultur. Warum nicht? Weil der polizeiliche Unterdrückungsapparat das verhindert." Gutierrez Menoyo ist der einzige Regimegegner, der von Castro jemals empfangen wurde. Immerhin drei Stunden lang, so versichert Menoyo, habe er mit ihm diskutiert und ihm seine Meinung gesagt. "Wir leben in einem System, das zu nichts mehr taugt. Das Land ist dauerhaft zurückgeblieben", schimpft er und fordert: "Die Jugend muss eine neue Revolution im Lande auslösen. Auf friedliche Weise natürlich." Aber wie? Über 70 Prozent der Menschen kamen nach dem 1. Januar 1959 zur Welt. Sie kennen nichts als diese Revolution.

Die Regierung, sagt Gutierrez Menoyo, rede derzeit viel von "notwendigen" Veränderungen. Um das Land zu verändern, müsse das US-Embargo aufgehoben werden, betont er, weil es sein Land in seiner Entwicklung hemme. Um der eigenen moralischen Glaubwürdigkeit willen sei es aber auch höchste Zeit, dass die kubanische Regierung das über ihr eigenes Land verhängte "Embargo" bürgerlicher Freiheiten aufhebe und einen Übergang zu einer Demokratie einleite. Was sein Land jetzt brauche, sei "die Gewährung von Freiheiten" wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit und die Zulassung beruflicher Selbstständigkeit, damit sich die für eine Entwicklung des Landes nötigen kreativen Kräfte entfalten könnten.

Dennoch: Die Generation der nationalistischen "Fidelistas" nimmt inzwischen kaum noch ein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, über korrupte Funktionäre und Polizisten, über den Schlendrian und die Disziplinlosigkeiten zu schimpfen. Mehr denn je beklagen die Menschen landauf, landab den Mangel an Wohnungen, die miserablen Verkehrsmittel, das Verschwinden von Waren auf dem Weg zum Verbraucher und deren Wiederauftauchen auf dem Schwarzmarkt, die steigenden Preise für Elektrizität, Fleisch und Gemüse. Sie kritisieren, dass das Angebot in den staatlichen Läden immer schlechter und jenes auf den teuren Bauernmärkten hingegen immer besser werde und man für den Durchschnittslohn von 300 kubanischen Pesos immer weniger kaufen könne. Für den Peso Convertible, den sogenannten CUC, der anstelle des US-Dollar als Devisenwährung kursiert, werde das Warenangebot hingegen immer größer. Ein CUC ist heute so viel wert wie einst ein US-Dollar: 24 nationale Pesos.

Doch dieses Doppelwährungssystem habe, so kritisierte Raúl Castro in ungewohnter Offenheit, "zu sozialen Disziplinlosigkeiten und deren Duldung geführt, die sehr schwer zu beseitigen sind, wenn sie sich erst einmal festgesetzt haben". Deshalb soll die Doppelwährung mittelfristig abgeschafft und durch nur eine Währung ersetzt werden.

Leonardo Martínez López, der seit 16 Jahren für seinen Wahlkreis in Havanna in der Nationalversammlung sitzt, erinnert sich noch "an die sehr viel besseren Zeiten unseres sozialistischen Systems". 1988/1989 zum Beispiel habe er als Ingenieur 198 Pesos verdient. "Diese 198 Pesos waren damals mehr wert als die 600 Pesos, die ich heute verdiene", gesteht er. "Es ist so, wie Raúl festgestellt hat: Die Löhne sind keine Motivation mehr zum Arbeiten." Víctor Álvarez, der knapp über 60-jährige Berater für Joint Ventures kubanischer Staatsbetriebe mit ausländischen Firmen erinnert sich noch gut, wie es vor 20 Jahren war: "Ende der 80er-Jahre haben wir für ein Pfund Schweinefleisch 3,50 kubanische Pesos bezahlt. Heute kostet es 24 Pesos, 700 Prozent mehr."

Inzwischen hat sich das ganze Land unter der Oberfläche in einen blühenden Schwarzmarkt verwandelt, der sich aus dem Diebstahl öffentlichen Eigentums nährt. Den Experten um Raúl Castro schwant, dass das Schattenwirtschaftssystem nur eingedämmt werden kann, indem es aus der Illegalität befreit wird. Das wäre zu schaffen, indem das kubanische System dem chinesischen Modell folgend zu einer Art kommunistischem Kapitalismus umgebaut würde, das marktwirtschaftliche Spielräume zuließe. Vielleicht ist dies auch das Ziel des jetzt eingeschlagenen Weges der kleinen Reformschritte. Bis dahin heißt es für die Bevölkerung jedoch weiterhin: warten und ausharren. Und: auf die eigenen Kräfte bauen.

So wie jene resolut wirkende 20-jährige Frau in Banes im idyllischen Osten der Insel, wo die afrokubanischen Kulte zu Hause sind und der von den Castros gestürzte Diktator Batista herkam. Wie sie mit ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter auf der Veranda ihres über hundert Jahre alten Holzhauses nahe dem Stadtzentrum sitzt und vorrechnet, dass eigentlich keiner von ihnen genug zum Leben habe, meint sie schließlich lachend: "In der Karibik und in Lateinamerika heißt es über uns, wir Kubaner hätten nicht nur Humor, sondern wir seien auch Zauberer. Denn immer wieder vollbrächten wir Wunder mit dem wenigen, was uns zur Verfügung steht, um zu überleben."

An der Mangelwirtschaft wird Fidel Castro, selbst wenn er wollte, nichts mehr ändern. Er weiß, dass er nach so vielen Kämpfen, die er gekämpft hat, dieses eine Mal nicht siegen kann. Das Einzige, was er vielleicht noch gewinnen kann, ist ein wenig Zeit. Denn drei Dinge möchte er noch erleben, bevor es zu Ende geht: erstens den 50. Jahrestag seiner Revolution; zweitens die Gewissheit, dass seine Revolution auch ohne ihn weiterlebt; drittens das Ende der Amtszeit des zehnten, von ihm politisch überlebten US-Präsidenten George Bush, verknüpft mit der Hoffnung auf ein Signal für einen historischen Neuanfang in den Beziehungen zwischen den USA und Kuba durch den neuen US-Präsidenten Barack Obama.

Die Erwartungen an Obama Die ideologische Verhärtung auf Kuba war auch ein Reflex auf Provokationen und Sabotageakte der USA. Zugleich sorgten die USA auf internationaler Bühne für eine Isolation Kubas und belegten die Insel mit einer irrwitzigen Wirtschaftsblockade, wie man sie nicht einmal blutrünstigen Diktatoren zumutete. Das band Kuba enger an die Sowjetunion, als es Castro lieb war. Er war eher mehr Pragmatiker als Ideologe. Moskau sah das genauso und ärgerte sich ständig über den Commandante, weil er so unberechenbar war und in "Partisanenmanier" zu regieren pflegte.

Längst schwimmt der Castroismus aber wieder auf einer Welle der Sympathie - Bush sei Dank. Fidel Castro ist auf seine letzten Tage - neben Nelson Mandela - zu seiner eigenen Überraschung der Elder Statesman der Dritten Welt: Fast alle Länder Lateinamerikas pflegen wieder gute Beziehungen zu Havanna. Die jüngsten Besuche der Präsidenten Chinas und Russlands sollen der Welt signalisieren, dass Kuba wieder starke Freunde hat. Es zeugt aber auch davon, dass die Ära nach Castro begonnen hat, dass Raúl Castro der starke Mann des Übergangs ist. War der venezolanische Präsident Hugo Chavez eine Art politischer Ziehsohn für Fidel, wird für Raúl der brasilianische Präsident Lula da Silva Partner und Freund sein. Kuba steht vor einer behutsamen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Öffnung. Mit Obama wird sich zeigen, ob der Goliath USA dem karibischen David die narzisstischen Kränkungen verzeihen kann und bereit ist, einen Wandel durch Annäherung zu wagen.

Das wäre so etwas wie eine Absolution für Fidel Castro. Dann wäre es ungefähr so gekommen, wie von ihm prophezeit: Die Geschichte mag ihn dann zwar nicht freigesprochen haben, aber sie hat ihn auch nicht verurteilt. Gabriel García Marquez schrieb einmal: "Wo immer er sein mag, wann immer und mit wem auch immer - Fidel Castro ist da, um zu gewinnen. Ich glaube nicht, dass es jemanden auf dieser Welt gibt, der ein schlechterer Verlierer sein könnte als er - er wird keine Ruhe finden, ehe er es nicht geschafft hat, die Bedingungen umzukehren und einen Sieg daraus zu machen."