Nur Stunden vergingen, bis fünf arabische Armeen den jungen Judenstaat angriffen. Günter Stiller, einer der profundesten Kenner Israels und bis 1998 Abendblatt-Chefreporter, erinnert an jene Tage, die die Welt nachhaltig veränderten.

Die Beschreibungen jener Stunde, auf die Millionen verfolgter Juden in aller Welt eine Ewigkeit gehofft und gewartet hatten, erinnern 60 Jahre danach seltsamerweise eher an Protokolle eines Verwaltungsaktes als an von Herzblut getränkte Schilderungen einer Staatsgründung. Selbst David Ben Gurion (damals 62), der offenbar vom Schicksal persönlich erwählte Geburtshelfer und Übervater eines Landes ohne Überlebensgarantie notierte in seinen Memoiren nur Worte, die Kämpfe um Leben und Tod prophezeiten, aber keinerlei Sicherheit zu bieten hatten.

Der Gründungsakt des ersten jüdischen Staates der Neuzeit begann nach jüdischer Zeitrechnung am 5. Ijar 5708, also am 14. Mai 1948, im tristen Saal des Museums von Tel Aviv, wo der Provisorische Volksrat zu seiner ersten Sitzung zusammentrat. Ben Gurion verlas in einer nur elf Minuten dauernden Rede die Unabhängigkeitserklärung, die der Volksrat in erster Lesung schon gebilligt hatte. Über ihm hing ein großes Porträt des Begründers der zionistischen Bewegung und Verkünders der Idee eines Judenstaates, des Österreichers Theodor Herzl (1860-1904), der Palästina nie besucht hatte. An Tränen konnte sich hinterher keiner der Anwesenden erinnern, die kamen erst später.

Nach der Verlesung der Erklärung forderte der spätere "Löwe von Israel" die Anwesenden auf, die Deklaration durch einfaches Erheben von den Sitzen anzunehmen, was selbstverständlich alle taten. Rabbi J. L. Fischmann sprach den traditionellen Segen: "Gelobt seist Du Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns am Leben gelassen und uns Bestand gegeben hat und uns diese Zeit erreichen ließ."

Danach, so Ben Gurion in seinen Memoiren, "unterzeichneten die Mitglieder des Volksrates das Dokument der Staatsgründung, und ich erklärte: 'Der Staat Israel ist errichtet. Die Sitzung ist geschlossen.' Sie endete mit dem Absingen der Hatikwa, unserer Nationalhymne. In den Straßen Tel Avivs tanzte das Volk."

Ben Gurion tanzte nicht. Schimon Peres, der 60 Jahre nach jener weltgeschichtlichen Stunde im Alter von 85 Jahren es noch zum Staatspräsidenten seines Landes bringen sollte, erinnert sich:

"Damals stand ich neben Ben Gurion. Auf den Straßen wurde getanzt und gesungen. Wir haben uns gefreut. Ben Gurion nahm mich für einen Moment beiseite und sagte: 'Heute tanzen wir, morgen werden wir kämpfen!' Ich dachte noch, jetzt übertreibt er aber. Aber schon am nächsten Morgen gab es einen Anschlag auf einen Bus, bei dem sechs Israelis getötet wurden, und der Unabhängigkeitskrieg brach aus." Es sollte der erste von sechs Kriegen und zwei Intifaden sein. Alle hat Israel gewonnen, der Frieden aber wurde bis heute nicht errungen.

So wie Peres hatten sich viele Mitglieder der "Gründungsversammlung" im Tel-Aviv-Museum von der Euphorie der Stunde blenden lassen: Unter ihnen waren Delegierte der Jewish Agency, der Zionistischen Weltorganisation, Repräsentanten der Literatur, der Kunst und der Medien, die Parteivorsitzenden, die Oberrabbiner, der Stadtrat von Tel Aviv, der Generalstab der Haganah, der Selbstverteidigungskräfte, die Ben Gurion geschaffen hatte und als Oberbefehlshaber führte, und die Spitzen der Wirtschaft und der Gemeinden "Israels".

Warum Israel?

Um den Namen des jüdischen Volksstaates hatte es in der Great Russell Street 77 in London, wo das Politische Hauptquartier der Zionistischen Bewegung arbeitete, aber auch in den anderen jüdischen Zentren erhebliche Auseinandersetzungen gegeben: "Neu-Judäa" wurde vorgeschlagen. Oder: "Jüdische Republik". Ben Gurion hatte aber den Namen "Israel" durchgesetzt.

London, genauer: ein Stockwerk im Verwaltungsgebäude der Warenhauskette Marks and Spencer in der Baker Street galt auch als "Einkaufszentrum" für das Militär und die Wirtschaft. Die besten Verkäufer orderten weltweit alles, was die Juden im Heiligen Land an Munition, Waffen, Technik und Proviant benötigten, um ihren ersten souveränen Staat, der auch als Asyl für die überlebenden Juden aus Europa dienen sollte, zu verteidigen.

60 Jahre Israel! Vieles ist vergessen: Die stillen Überzeugungen des Wiener Journalisten und Zionisten Theodor Herzl, der nach dem wegweisenden ersten Zionisten-Kongress in der Schweiz anno 1897 ahnungsvoll in sein Tagebuch geschrieben hatte: "In Basel habe ich den Judenstaat gegründet." Erst nach der Schoah sollte seine Vision Wirklichkeit werden.

Vergessen scheinen die mörderischen Kämpfe zwischen Arabern und Juden, die um 1930 mit den Aufständen der Palästinenser gegen die jüdischen Einwanderer begonnen hatten.

Ben Gurion wusste, warum er ausgerechnet am Gründungstag des Staates Israel deprimiert in sein Tagebuch schrieb: "Ich bin ein Trauernder unter lauter Frohlockenden!" Nur wenige Stunden später, mitten in der Nacht, griffen die Armeen von fünf arabischen Staaten ohne Vorwarnung an - Ägypter, Jordanier, Iraker, Syrer und Libanesen.

Israel siegte, Palästina wurde gemäß Uno-Plan geteilt, aber 700 000 Palästinenser waren aus ihrem Land geflüchtet oder vertrieben worden. Und der Frieden? Er war weiter entfernt denn je.

Am 29. November 1947 hatte sich die Uno mit 33 gegen 13 Stimmen für die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat mit einem internationalisierten Jerusalem unter Uno-Verwaltung ausgesprochen. Die Lebensdauer dieses Planes sollte sich auf knapp zwei Jahre belaufen. Am Ende seines siegreichen "Unabhängigkeitskrieges" hatte Israel aber - statt der von der Uno vorgesehenen 56,4 Prozent des Grund und Bodens von Palästina - 77,4 Prozent einschließlich Neu-Jerusalem besetzt, wobei zu berücksichtigen ist, dass vor 1948 mehr als 60 Prozent der Fläche des neuen Staates arabischen Besitzern gehört hatten. Die politische Sprengkraft dieser dramatischen Landnahme bekamen wir erst vor wenigen Jahren wirklich zu spüren. Und dass Sieger keine Straßen in die Zukunft zu brauchen scheinen, wurde auch erst nach dem bisher letzten großen Krieg und zwei Intifaden erkannt.

Das winzige Israel wurde zwar zur einzigen Demokratie im Nahen Osten, aber als Dauersieger in mehr als einem halben Jahrhundert wurde es auch zur Besatzungsmacht, was zwangsläufig zum Sturz in die Kategorie des "hässlichen Israeli" führte.

"Wir brauchen den Frieden nötiger als das tägliche Brot. Aber ich fürchte sehr, zu viele gönnen uns diesen Frieden nicht", sagte David Ben Gurion zwei Tage nach Israels "Sieg aller Siege" im sogenannten Sechs-Tage-Krieg von 1967 im Interview zu mir.

"Haben Sie Angst?", fragte ich den Mann, der Israel gegründet und geführt hatte.

"Keine Angst! Aber ich frage mich, wo wir stehen werden, wenn die Schatten eines Tages länger werden", winkte er ab.

Wo sein Land dann wirklich stand, verriet er mir im Juni 1973, als er 86 Jahre alt war und, wie sich herausstellen sollte, das letzte Interview seines Lebens gab:

"Wir haben heute noch keinen echten jüdischen Staat", sagte er 25 Jahre nach seiner Gründungsrede im Tel-Aviv-Museum. "Wir wollen ihn erst haben. Aber ich weiß nicht, ob man uns die Zeit dafür noch gibt. Vielleicht haben wir ja doch zu viel zu schnell gewollt."

Er machte sich (und dem Journalisten aus dem Land des Holocaust) nichts vor. Er zitierte sogar die giftige Kritik des bekannten jüdischen Schriftstellers und ehemaligen Israel-Fans Arthur Köstler über die britische Balfour-Deklaration von 1917, in der den Juden eine Heimstätte in Palästina fest versprochen worden war: "Eine Nation schenkte einer zweiten Nation das Land einer dritten."

60 Jahre Israel! Für viele Juden ein Grund zum Hoffen, zum Sich-Ängstigen, zum Hassen, zu noch größeren Leistungen, zum Feiern und zum Wegschauen.

Für Ruth Dajan, die Witwe des berühmten israelischen Generals und Kriegsherrn mit der schwarzen Augenklappe, Mosche Dajan, ist die 60-Jahr-Feier der Staatsgründung beispielsweise nicht mehr und nicht weniger als ein "unwichtiges Datum". Warum? "Wir waren ja schon 30 Jahre vorher hier!"

Mein ehemaliger israelischer Begleitoffizier, der mich im brennenden Beirut beschützt hatte, sieht das historische Jubiläum dagegen als die letzte Wendemarke "auf dem Weg" zu dem einzigen Ziel, das keiner erreichen konnte: der Lösung des Palästina-Problems.


Lesen Sie am Montag: "Gesichter Israels" - eine 40-seitige Sonderausgabe zum 60. Jahrestag der Staatsgründung