Kommentar

Wer die russische Empörung über die amerikanischen Pläne einer Raketenabwehr in Osteuropa verstehen will, der muss sich vorstellen, die Russen wollten umgekehrt einen Teil ihrer Raketensysteme auslagern - nach Kuba, direkt vor die Nase der Amerikaner. Unvorstellbar? 1962 hatte die Stationierung russischer Mittelstreckenraketen auf Fidel Castros Karibikinsel die Welt schon einmal an den Rand eines Atomkrieges gebracht. Und heute? Droht ein neuer Kalter Krieg?

Keineswegs. Zunächst handelt es sich bei dem Raketenstreit um eine virtuelle Debatte. Das Projekt, die Stationierung von zehn US-Abfangraketen und Radarstationen in Polen und Tschechien, ist weder technisch ausgereift, noch steht die Finanzierung. Und die Interkontinentalraketen der Schurkenregime Iran und Nordkorea, die der Schild abhalten soll, gibt es noch gar nicht. Hinzu kommt, dass sich in Zeiten des Terrorismus die globale Bedrohungslage sowieso geändert hat.

Das weiß Kremlchef Putin natürlich, zumal das von ihm angedrohte Wettrüsten sogar Russlands enorme Ressourcen übersteigen würde. Seine Rüstungsschelte ist im nahenden Präsidentschaftswahlkampf aber Musik in den Ohren jener Kreml-Paladine, die Putins Macht über das Ende der eigenen Amtszeit sichern sollen. Vor allem will Russland, die nach dem Konkurs der Sowjetunion gedemütigte Großmacht, wieder auf einer Augenhöhe mit Amerika agieren. Das erklärt Putins aggressive Außenpolitik, sei es der Streit um den Status des Kosovo, die politischen Umarmungen des Amerikafeindes Venezuela oder die Unterstützung für den Atomreaktorbau im Iran. Außerdem drangsaliert er Polen, Estland und Litauen, alle einst russischer Hinterhof, und versucht nun im Vorfeld des G-8-Gipfels in Heiligendamm, die Nato-Staaten - seit dem Irak-Krieg ohnehin uneinig - über das Thema Raketenabwehr noch weiter zu spalten. Ein fadenscheiniges Manöver.