Bradley Manning sitzt seit zwei Jahren in Haft, weil er Nachrichtenmaterial an WikiLeaks weitergab. Für das US-Militär ist er ein Spion.

Er ist ein Persönchen von einem Mann, nur 1,57 Meter groß, bei seiner Verhaftung 48 Kilo schwer - das Gegenteil vom Filmklischee der Muskelprotze in Uniform. Aber in den Augen der US-Behörden ist Bradley Manning ein gefährlicher Spion. Seine militärischen Ankläger werfen ihm 22 Vergehen vor, darunter Diebstahl von Daten in öffentlichem Besitz, Verrat von Informationen zur nationalen Verteidigung und "Unterstützung des Feindes".

In den Augen des US-Verteidigungsministeriums hat Manning zumindest indirekt al-Qaida unterstützt, indem er geheim eingestuftes Material an die Enthüllungsplattform WikiLeaks weiterleitete. Wenn der 23-Jährige in seinem Prozess im Herbst für schuldig befunden wird - und davon kann man ausgehen -, droht ihm Haft bis zum Lebensende.

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Das Material, das er verraten haben soll, hat weltweit für Aufsehen gesorgt. Es geht um die Afghanistan- und Irak-Kriegstagebücher ("War Logs"), Hunderttausende von internen Frontberichten, die WikiLeaks im Juli und im Oktober 2010 veröffentlichte; um 251 300 interne Depeschen amerikanischer Botschaften unter anderem mit sensiblen Informationen über ausländische Politiker, die ab Februar 2010 auf WikiLeaks abrufbar waren und als "Cablegate" bekannt wurden. Und schließlich um jenes erschütternde Video "Collateral Murder", das den Angriff eines US-Kampfhubschraubers auf irakische Zivilisten zeigt: Zwölf Menschen werden darauf gezielt abgeschossen, unter ihnen Kinder und zwei Reuters-Journalisten. Die 17 Minuten und 47 Sekunden lange Sequenz, die WikiLeaks im April 2010 präsentierte, hat das Bild des Irakkriegs in der Öffentlichkeit schlagartig verändert.

Es dürfte allerdings schwierig werden nachzuweisen, welcher Feind hier faktisch unterstützt wurde - Wiki-Leaks? Al-Qaida? - und dass Manning sich dessen "voll bewusst" war. Überhaupt ist schon jetzt klar, dass Begriffe wie Feindunterstützung und Spionage nicht den Kern dieses Falls treffen. Für das US-Militär kann der Prozess sogar unangenehm werden. Ein aktives Unterstützernetzwerk weit über die USA hinaus sieht in Manning nämlich einen Helden, der unbequeme Wahrheiten über die blutigen, verlustreichen Kriege im Mittleren Osten aufgedeckt hat; einen "Whistleblower" wie seinerzeit Daniel Ellsberg, der die Pentagon-Papiere der Presse zuspielte, und Ron Ridenhour, der US-Behörden über das Massaker an 500 Zivilisten im Dorf My Lai im Vietnamkrieg informierte.

Von solchen Gedanken war Manning mit Sicherheit weit entfernt, als er sich entschloss, zur US-Army zu gehen. Geboren 1987 in Crescent/Oklahoma, war er als 13-Jähriger nach der Scheidung der Eltern mit seiner Mutter in ihre Heimat nach Wales gezogen. Er fühlte sich dort als einziger Amerikaner an seiner Schule isoliert. Und erkannte noch dazu, dass er schwul ist. Das führte auch zum Zerwürfnis mit seinem Vater, als er mit 18 in die USA zurückkehrte. Nach Aussage seiner Familie wurde er nach einem tätlichen Angriff auf seine Stiefmutter rausgeworfen und erlebte eine depressive Phase.

Während seiner Ausbildung für die militärische Aufklärung in New York lernte er seinen ersten "richtigen" Freund kennen, Tyler Watkins, und postete es glücklich auf Facebook. Watkins, Student in Boston, brachte ihn mit der Hacker-Community seiner Uni zusammen. Offenbar fühlte sich Manning in diesem Umfeld zum ersten Mal wohl.

Nicht aber in seiner Ausbildungseinheit. Im August 2009 musste er eine psychologische Beratung der Armee in Anspruch nehmen. Dennoch schickte man ihn im Oktober mit dem 2nd Brigade Combat Team in den Irak. Über zwei Arbeitscomputer erhielt er Zugang zu SIPRnet (Secret Internet Protocol Router Network), dem größten Netz des Pentagons für den Austausch geschützter Nachrichten und Daten, und dem weltweiten geheimdienstlichen Informationssystem. Nach Ansicht seiner Familie hätte er in seiner Verfassung diesen Zugang nie bekommen dürfen.

"He was a mess of a child", hat einer seiner Vorgesetzten über ihn gesagt - Problemkind wäre eine freundliche Umschreibung. Wieder fiel Manning mit "merkwürdigem" Verhalten auf. Als er einer Soldatin ins Gesicht schlug, wurde er zum Obergefreiten degradiert. Die Aufklärer arbeiteten in 14-Stunden-Schichten sieben Tage pro Woche in einem überfüllten Raum voller Kabel und Papierstapel. Er fühle sich "wie in der Wüste, mit einem Haufen hyper-maskuliner schießwütiger Redneck-Ignoranten", klagte Manning. Seine Beziehung ging in die Brüche.

Manning als Computer-Kid las offenbar das Magazin "Wired". Am 20. Mai 2010 veröffentlichte dessen Vizeredaktionsleiter Kevin Poulsen das Porträt des Hackers Adrian Lamo, der unter dem Asperger-Syndrom leidet, einer milden Form von Autismus. Lamo war eine Berühmtheit: Er hatte sich in die Systeme von Unternehmen und der "New York Times" gehackt, Schwachstellen im Umgang mit Kundendaten bloßgelegt und dafür eine Gefängnisstrafe abgesessen. Sah Manning in ihm eine verwandte einsame Seele? Er kontaktierte Lamo via Twitter, man verabredete sich zum Chat. Manning schüttete Lamo sein Herz aus. Und eröffnete ihm nach und nach, er sei ein Leak, eine undichte Stelle. Ein Auszug:

Manning: "Hypothetische Frage: Wenn du über längere Zeit freie Kontrolle über geheim eingestufte Netzwerke hättest ... sagen wir, 8-9 Monate ... und du sähest unglaubliche Dinge, schreckliche Dinge ... Vorgänge, die in die Öffentlichkeit gehören statt in einen dunklen Server irgendwo in Washington ... was würdest du tun?" Minuten später fuhr er fort, "jemand, den ich sehr gut kenne", sei in geschützte Netze eingedrungen und habe Daten auf einen normalen PC geladen, "sie sortiert, komprimiert, verschlüsselt und einem verrückten weißhaarigen Australier übertragen".

Gemeint war, wie Lamo sofort verstand, WikiLeaks-Chef Julian Assange. Lamo fragte nach, machte es Manning leicht. Manning erklärte, er habe die Daten auf Lady-Gaga-CDs überschrieben und abgespeichert. "Es ist wichtig, dass das Zeug rauskommt. Vielleicht ändert es etwas", sagte er.

Als sich Manning das nächste Mal wieder unter dem Usernamen "bradass87" meldete, hörte das FBI schon mit. Lamo hatte keine zwei Tage gebraucht, um die Ermittler einzuschalten. Auch Poulsen von Wired und Chet Uber vom Internet-Projekt Vigilant erzählte er von den Chats. Dabei hatte er Manning gleich zu Beginn Vertraulichkeit zugesichert: "Ich bin Journalist und Prediger, du kannst dir davon was aussuchen und dies als Beichte oder Interview (wird nie veröffentlicht) betrachten, um ein bisschen gesetzlichen Schutz zu genießen."

Am 26. Mai 2010 wurde Manning auf Base Hammer verhaftet. Lamo übergab dem FBI in einem Starbucks nahe seiner Wohnung in Kalifornien Mails von Manning, die er nicht einmal selbst gelesen hatte; die Chat-Protokolle reichte er nicht nur dem FBI, sondern auch an Poulsen weiter. Wired, erfreut über die Exklusiv-Story, begann im Juni mit der Veröffentlichung der Protokolle. Manning oder sein Rechtsvertreter wurden gar nicht mehr gefragt.

Lamo verteidigt sich damit, er habe befürchtet, dass Manning mit seinen Leaks Menschenleben gefährde. (Inzwischen hat selbst das Pentagon einräumen müssen, dass kein einziger Mensch durch die Veröffentlichungen verletzt oder getötet worden sei.) In großen Teilen der Netzgemeinde gilt Lamo heute als persona non grata. Der Bostoner Computerwissenschaftler David House, der Manning neben dessen Familie und Anwalt als Einziger in der Haft besuchen durfte, bezeichnete Lamo als "Egomanen, Narzissten und allseits bekannten Informanten der US-Regierung". "Er hat jemanden hinters Licht geführt, ihn an die Obrigkeit ausgeliefert und damit gegen den ungeschriebenen Hacker-Kodex verstoßen", schreiben die Autoren Carsten Görig und Kathrin Nord in ihrem Buch über WikiLeaks. Auch Wired geriet massiv in die Kritik: Die Chat-Protokolle sind lupenreines Belastungsmaterial und enthalten Informationen, die Mannings Persönlichkeitsrechte berühren. Und Lamos irreführende Rolle in den Chats - "ich bin Journalist und Prediger" - wurde in Wired zunächst verschwiegen.

Die große Zeit von WikiLeaks, die Ende 2009 begann, ist mit dem Namen Assange verschmolzen. De facto ist sie auch vom Namen Bradley Manning nur schwer zu trennen. Die Enthüllungsplattform machte, damals von Reykjavík aus, nicht nur mit dem brisanten Material weltweit Furore, sondern auch wegen ihres weißblonden Frontmanns Julian Assange. Der eloquente Australiers trat quasi als Popstar der Internet-Freiheit auf. Ob und wann Manning mit Assange Kontakt aufgenommen hat, ist allerdings nicht klar. Forensische Computerexperten des US-Militärs, die Mannings Festplatten inzwischen untersucht haben, konnten Kontakte zu Usernamen nachweisen, die Assange benutzt haben soll.

In der Haft bekam Manning elf Monate lang die ganze Wut des Militärapparats zu spüren. Er saß in einer kleinen, fensterlosen Zelle der Marine Corps Base in Quantico/Virginia unter ständiger Bewachung wegen "Suizidgefahr", ohne Kontakt zu Mithäftlingen. Beim Auslauf im Hof wurde er an Händen und Füßen gefesselt. Ab März 2011 wurde ihm nachts sogar alle Kleidung abgenommen. Manning musste Antidepressiva nehmen. Die Haftbedingungen führten in den USA zu heftigen Protesten. Sehr schnell bildete sich ein Unterstützernetzwerk. Der Uno-Berichterstatter für Folter, Juan Mendez, der die Haftbedingungen untersuchte, sprach von einer "grausamen, inhumanen und entwürdigenden" Behandlung. Für David House ist klar, worauf sie abzielte: Zermürbung, damit Manning Assange belastete. "Das primäre Ziel der US-Regierung sind immer noch Assange und WikiLeaks", sagt House. Zwar kann Assange als Australier nicht wegen Spionage angeklagt werden, aber wegen Verschwörung. Seit April 2011 wartet Manning unter besseren Haftbedingungen in Fort Leavenworth in Kansas auf seinen Prozess.

Daniel Ellsberg, 81, der in den 70er-Jahren den Medien die Pentagon-Papiere über Kriegsverbrechen in Vietnam zuspielte, nimmt Manning heute in Schutz. Manning, sagt Ellsberg, habe als Aufklärer von "schrecklichen Machenschaften" erfahren, von "Hintertür-Vereinbarungen der USA im Mittleren Osten, in vielen Fällen sogar (von) Kriegsverbrechen", das gehe aus den Chats hervor. Manning hatte wiederholt zu Lamo gesagt, er hoffe, "eine weltweite Diskussion, Debatten und Foren" in Gang zu setzen: "Ich will, dass die Leute die Wahrheit sehen." Es könne ja sein, "dass ich jung, naiv und blöd bin", aber er wolle nicht glauben, dass die Gesellschaft zu abgebrüht sei, um Verbrechen zu ignorieren.

Ellsberg sieht in Manning einen klassischen Whistleblower. Der Begriff meint jemanden, der wie mit einer schrillen Pfeife (Whistle) auf Missstände und Fehlverhalten hinweist. Eine Reihe von Skandalen hat in den USA dazu geführt, dass es mittlerweile Schutzgesetze für Informanten gibt, die Missstände in ihren Firmen, Behörden oder auch im Militär melden. Hätte sich Manning mit belastendem Material beispielsweise an Kongressabgeordnete gewendet - wie Ridenhour wegen My Lai -, hätte ihn der "Military Whistleblower Protection Act" geschützt.

Wusste er davon nichts, weil er so lange in England gelebt hatte? Warum wies ihn Lamo nicht darauf hin? Hielt das prinzipielle Misstrauen der Hacker gegenüber Behörden und Staat sie davon ab? Oder ließ sich Manning von WikiLeaks schillernder, geheimnisumwitterter Berühmtheit blenden?

Man könnte Bradley Manning mit seiner Mischung aus Naivität und Sendungsbewusstsein für eins der letzten Opfer des Irakkriegs halten, der 2003 mit einer großen Lüge gegenüber der internationalen Gemeinschaft begonnen hatte. Aber letztlich ist Manning ausgerechnet an jener Szene gescheitert, die vorgibt, sie könne mit brisanten Informationen umgehen und verteidige die Informationsfreiheit.