Beim Nato-Gipfel in Chicago geht es um akuten Geldmangel, strategische Konzepte und den Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan.

Berlin. Vom Nato-Gipfeltreffen in Chicago, sagte Anders Fogh Rasmussen, werden kraftvolle Botschaften in die Welt gesandt. Geht es nach dem Generalsekretär des Bündnisses, lauten die folgendermaßen: Die Nato hat auch 60 Jahre nach ihrer Gründung nichts von ihrer Notwendigkeit eingebüßt. Die transatlantische Verteidigungsgemeinschaft von 28 Staaten ist das wichtigste sicherheitspolitische Bündnis der Welt. Und schließlich: Die Allianz ist fit für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. So weit der Plan des Dänen, der auf einen Gipfel von "historischem Symbolwert" hofft.

Als ehemaliger Ministerpräsident seines Landes ist Rasmussen geschult darin, drängende Probleme hinter politischer Rhetorik zu verschanzen. Denn tatsächlich sind bislang nur die organisatorischen Rahmenbedingungen historisch. Mit mehr als 60 Staats-, Regierungschefs und Vorständen internationaler Organisationen wird das Treffen in der Heimatstadt des US-Präsidenten Barack Obama als der teilnehmerreichste Nato-Gipfel in die Geschichte eingehen. Ob die 24 Stunden am Sonntag und Montag ausreichen werden, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen, steht in den Sternen.

Wie weiter in Afghanistan? Diese Frage wird im Mittelpunkt der Gespräche von Nato-Partnern mit den anderen Verbündeten am Hindukusch stehen. Beim vergangenen Nato-Gipfel in Lissabon waren die Weichen für den Abzug der internationalen Truppen bis Ende 2014 gestellt worden. Das griffige Motto dafür lautete: Gemeinsam rein, gemeinsam raus. Spätestens seit der neue französische Präsident François Hollande in seinem Wahlkampf verkündete, er werde seine Truppen schon Ende 2012 nach Hause holen, ist dieser Konsens gefährdet. Militärisch käme das Bündnis ohne die Franzosen aus. Gefürchtet wird allerdings, dass auch andere kriegsmüde Nationen dem Beispiel folgen könnten und ein unkoordiniertes Wettrennen zum Ausgang beginnt. Also soll versucht werden, Hollande einen Kompromiss abzuringen. Doch bei seinem ersten Treffen mit Obama machte Frankreichs neuer Staatschef klar, dasss er von seinem Wahlversprechen nicht abrücken werde.

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Selbst ohne störrische Partner ist die Logistik des Abzugs schwierig genug. Neben den rund 100 000 Soldaten müssen 122 000 Container und 70 000 Fahrzeuge aus dem Land geschafft werden. Laut Nato müsste drei Jahre alle sieben Minuten ein voll beladener Truck Afghanistan verlassen. Bislang stehen aber nicht einmal genügend gesicherte Routen über die Nachbarländer zur Verfügung. Fest steht bislang nur, dass weiterhin Soldaten im Land bleiben werden. Doch wie viele und mit welchem Mandat? Kernaufgabe soll die weitere Ausbildung der afghanischen Armee und Polizei sein. Doch die eigenen Leute müssen auch geschützt werden. Also doch weiterkämpfen?

Und was ist mit Spezialkräften für die Terroristenjagd?

In diesen Fragen soll der Nato-Gipfel ebenso Fortschritte bringen wie bei den Finanzen. Die afghanischen Sicherheitskräfte, die künftig für Ordnung sorgen sollen, müssen bezahlt werden. Geschätzte drei Milliarden Euro wird das jährlich kosten, von denen die USA den Löwenanteil übernehmen werden. Aber Präsident Obama erwartet auchsignifikante Beiträge der Bündnispartner. Die Bundesregierung reist mit dem Vorschlag nach Chicago, davon 150 Millionen Euro im Jahr zu übernehmen. Außerdem will Deutschland weiterhin rund 430 Millionen Euro pro Jahr in Wiederaufbau und Entwicklung Afghanistans investieren. Obama wird seine europäischen Verbündeten darüber hinaus fragen, was sie für die gemeinsame Sicherheit zu investieren bereit sind. Gegenwärtig tragen die USA rund 75 Prozent der Nato-Ausgaben allein.

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Mehr Geld aus Europa also fürs Militär? Das wird in Zeiten der leeren öffentlichen Kassen schwer durchzusetzen sein. Rasmussen wirbt deshalb für das Konzept der "smart defence", der cleveren Verteidigungspolitik. Die Europäer sollen danach mit der lange diskutierten Arbeitsteilung ernst machen, frei nach dem Motto: Nicht jeder muss alles selbst machen. Noch allerdings walten die nationalen Egoismen: Gerade erst hat zum Beispiel der Bundestag das Nato-Großprojekt zur Gefechtsfeldaufklärung und Bodenüberwachung (AGS), das eigentlich in Chicago beschlossen werden sollte, auf Eis gelegt. Mit solchen Partnern ist Arbeitsteilung schwierig. Längst gilt Deutschland in den USA - auch wegen der Verweigerung beim Libyeneinsatz - als sicherheitspolitisch "verlorene Nation", wie es in einer Denkschrift des Atlantic Council heißt. Die einflussreiche Denkfabrik, in deren Beirat führende Außenpolitiker der beiden großen US-Parteien sitzen, warnt, dass ein "schwaches Deutschland" die Nato untergrabe.

Wenig Hoffnung schließlich haben 40 ehemalige Außen- und Verteidigungsminister auch für die Fortschreibung des strategischen Nato-Konzepts. So sollte in Chicago das "Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv" der Allianz kritisch überprüft werden. Dabei geht es um die Frage, welche Mischung aus nuklearen, konventionellen und Raketenabwehrfähigkeiten die Nato künftig benötigt. Die 40 Militärexperten, zu denen Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe zählt, wünschen sich in einem Aufruf eine mutige atomare Abrüstungsagenda. Ihre Befürchtung: Chicago stehe "unter keinem guten Stern" und drohe "ohne historische Nachwirkungen" zu bleiben.

Unter keinem guten Stern steht auch der geplante Raketen-Abwehrschild. Bis 2020 soll er stehen und alle europäischen Nato-Staaten vor Angriffen mit ballistischen Raketen schützen. "Mehr als 30 Länder sind im Besitz der notwendigen Technologien oder arbeiten daran", warnt Rasmussen. Welche Länder das sind, sagt er nicht. Das System orientiere sich an "den neuesten Bedrohungsszenarien", heißt es im verklausulierten Militärsprech. Das Land, von dem nach Ansicht der Experten die größte Gefahr ausgeht, nennt keiner beim Namen: Iran.

Die aktuelle Bedrohung jedoch kommt gar nicht aus Teheran. Russland benutzt das Nato-Projekt, um einen neuen Konflikt mit dem Westen zu schüren. Anfang Mai schreckte Generalstabschef Nikolai Makarow das Bündnis mit der Ankündigung auf, die Einrichtung des Abwehrsystems mit einem Erstschlag zu beantworten. Die in der Exklave Kaliningrad stationierten Raketen seien "eine unserer Optionen, um die Infrastruktur des Raketenschilds in Europa zu zerstören".

Im Klartext: Setzt die Nato ihr Abfangnetz in Gang, werden militärische Einrichtungen auf dem ganzen europäischen Territorium zu Angriffszielen. Das gilt für das bereits im Mittelmeer kreuzende US-Kriegsschiff, das mit einem Aegis-Abwehrsystem ausgerüstet ist, wie auch für die im Südosten der Türkei liegende Radarstation. Wennab 2016 deutsche Patriot-Raketen, niederländische Fregatten mit Frühwarnradargeräten und eine Abfangstellung in Rumänien in Betrieb sind, gelten auch sie als Ziel, ebenfalls die für 2018 geplanten Abfangraketen in Polen. In Ramstein können die Verantwortlichen ihre Irritation nicht verbergen. "Die Nato-Abfangsysteme sind so positioniert, wie sie am besten einen Flugkörper abfangen können - und nicht in Richtung Russland", sagt der deutsche General Friedrich Wilhelm Ploeger. Der Konflikt mit Moskau ist trotzdem da.