EU-Parlamentspräsident Martin Schulz plädiert für weitere Hilfen für Athen - fordert aber Vertragstreue. Wahlergebnis kein Nein zur EU.

Hamburg. Der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz, 56, ist seit Januar Präsident des Europäischen Parlamentes. Er will mehr mit den Griechen als über sie reden und die europäische Idee neu beleben. Hamburg sagt er eine große Zukunft voraus.

Hamburger Abendblatt: Die Europa-Begeisterung ist einer Europa-Müdigkeit gewichen. Wie wollen Sie das ändern?

Martin Schulz: Es gibt eine Europa-Erschöpfung, die ich verstehen kann. Die Idee der europäischen Einigung für Frieden und soziale Sicherheit als historische Dimension ist von den meisten unbestritten. Ebenso die Zukunftsorientierung, dass man die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie Handel, Klima, Währung und Migration nicht mehr als Nationalstaat alleine lösen kann. Dazu brauchen wir starke europäische Institutionen im Wettbewerb und in der Kooperation mit anderen Weltregionen. Aber Wim Wenders hat mir kürzlich in einem Satz gesagt, wo das Problem Europas liegt: Aus der Idee ist die Verwaltung geworden. Jetzt verstehen die Menschen die Verwaltung als die Idee. Ich bin dafür, die Verwaltung zu ändern und nicht die Idee aufzugeben. Ich möchte die Menschen davon überzeugen und mit ihnen gemeinsam überlegen, wie wir die Strukturen so verbessern können, dass Idee und Form wieder zueinanderfinden.

Ist eine Pleite Griechenlands noch abzuwenden?

Schulz: Wenn die Griechen bereit sind, sich an die gegenseitigen Vereinbarungen zu halten, dann sicher. Ich werde am Sonntag nach Athen reisen und meinen bescheidenen Beitrag dazu leisten, die Griechen davon zu überzeugen, dass der Weg hart, aber vernünftig ist. Ich gehöre zu denen, die sich immer für eine Griechenland-Hilfe eingesetzt haben. Und wir können nicht glaubwürdig weiterarbeiten, wenn die Griechen nicht mitziehen.

Aber zeigt das Wahlergebnis vom Sonntag nicht, dass die Griechen ganz schwer vom Sparkurs zu überzeugen sind?

Schulz: Diese Schlussfolgerung ziehe ich nicht. Das Wahlergebnis ist Ausdruck einer tiefen psychologischen Krise in dem Land und ein Verzweiflungsschrei. Den Parteien, die für die Fortsetzung der Kooperation mit der EU sind, fehlen nur zwei Sitze zur Mehrheit. Und 40 Prozent sind nicht zur Wahl gegangen. Da muss man ran.

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Für den 10. Juni sind Neuwahlen im Gespräch. Darf man so lange wählen lassen, bis die Mehrheiten genehm sind?

Schulz: Im Moment scheint in Griechenland eine Regierungsbildung nicht möglich. Aber die Situation ist noch in Bewegung und wir sollten jetzt nicht vorschnell die Hoffnung aufgeben und Athen verurteilen, bevor wir intensiv mit den dortigen Politikern gesprochen haben. Jetzt kann die alte Regierung geschäftsführend im Amt bleiben und muss sich von Fall zu Fall Mehrheiten beschaffen. Aber das kann kein Dauerzustand sein. Wenn das neue Parlament keine funktionierende Regierung zustande bringt, ist es besser, noch mal zu wählen und die 40 Prozent Nichtwähler an die Urnen zu bringen.

Was macht Ihnen mehr Sorgen: dass die Griechen sich bei Neuwahlen nicht für klare Mehrheiten entscheiden oder dass die Europäer die Geduld verlieren?

Schulz: Beides macht mir Sorgen. Wir ärgern uns, dass wir gegen viele Widerstände und mit viel Mühe ein Hilfspaket für Griechenland geschnürt haben, das von manchen in Athen als Brüssler Diktat kritisiert wird. Wir bringen 130 Milliarden Euro aber nicht nach Griechenland, um die Menschen dort zu quälen. Deshalb fahre ich in den nächsten Tagen nach Athen, um mit den Menschen und den Handelnden zu sprechen und nicht über sie. Ich bin der einzige Präsident einer europäischen Institution, der dahin geht, und ich will die Leute direkt ansprechen.

Man kann nur denen helfen, die sich auch helfen lassen wollen.

Schulz: Das muss man in Griechenland in der Tat testen. Wenn die Menschen ihre Regierung abwählen, heißt das ja noch lange nicht, dass sie alle Maßnahmen der EU ablehnen. Das Wahlergebnis darf nicht als Nein zur EU interpretiert werden.

Was halten Sie von den Forderungen, die Zahlungen an Griechenland jetzt vorerst einzustellen?

Schulz: Gar nichts. Wir wollen das Land mit den Hilfszahlungen stabilisieren und keinen Zusammenbruch auslösen, dessen Domino-Effekte wir nicht kennen.

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Sparen als Selbstzweck reicht Ihnen nicht. Sie plädieren auch für Wachstum. Welche Impulse stellen Sie sich vor?

Schulz: Griechenland ist ein geeignetes Land für die Solarenergie, ein Projekt, das private Investoren anziehen kann. Gleichzeitig müssen die Griechen beim bisher staatlichen Energieversorger die Strukturen ändern. Es müssen Netze ausgebaut werden, um den Strom in andere Länder zu exportieren. Deutschland als industrielles Kernland Europas ist auf Energie-Importe angewiesen und könnte von dieser sauberen Energie profitieren.

Aber Solarenergie ist keine schnelle Hilfe für Griechenland.

Schulz: Wir können das griechische Problem nicht innerhalb von 14 Tagen lösen. Das ist ein Langzeit-Projekt. Es gibt aber Hoffnung. Die Griechen müssen an sich selbst glauben, und wir müssen gemeinsam überlegen, wo wir investieren können. Die nordafrikanischen Mittelmeer-Anrainer brauchen Infrastruktur bei Verkehrswegen und Wasserversorgung. Die brauchen eine nachhaltige Landwirtschaft, um ihre Bevölkerung ernähren zu können, die brauchen medizinische Versorgung. Das sind Milliarden-Investitionen für den privaten Sektor. Die könnten die südlichen EU-Länder Italien, Spanien, Frankreich, Griechenland liefern. Die EU sollte als große, globale Wirtschaftseinheit solche Projekte in Angriff nehmen, dann können wir auch Griechenland auf die Füße helfen.

Dazu gehört auch, den jungen Menschen eine Perspektive im Land zu bieten.

Schulz: Richtig. Da sind kurzfristige und konkrete Maßnahmen erforderlich. Man könnte junge Leute zum Beispiel in Infrastruktur-Projekten beschäftigen, im Umweltschutz, im Medizin- und Pflegebereich, bei der Renovierung staatlicher Einrichtungen. Junge Menschen, die sich selbstständig machen wollen, sollten die Möglichkeit haben, Gründungsdarlehen zu erhalten. Die EU könnte aus nicht genutzten Strukturfonds-Mitteln ein Hilfsprogramm für die Selbstständigkeit finanzieren.

Und warum tut Europa dann nichts?

Schulz: Wir schlagen diese Lösungen im Europäischen Parlament bis ins Detail beschrieben vor, und dann kommt die Sparhaltung der Bundesregierung. Deshalb möchte ich Sie bitten, diese Frage im Kanzleramt zu stellen.

Wird es mit dem neuen französischen Präsidenten François Hollande einfacher, Geld in Europa auszugeben?

Schulz: Natürlich bringt ein sozialistischer Präsident eine andere Sichtweise mit als ein Konservativer. Aber die deutsch-französischen Beziehungen hängen nicht an der Parteizugehörigkeit der handelnden Personen.

Welche Bedeutung hat Hamburg für Europa und umgekehrt?

Schulz: Vor Kurzem war eine Gruppe von EU-Parlamentariern zusammen mit Kollegen aus lateinamerikanischen Staaten in Hamburg. Die waren begeistert von Hamburg und dem Geist, der hier herrscht. Der europäische Binnenmarkt ist die größte Wirtschaftszone der Welt, Deutschland ist das größte EU-Land, und Hamburg ist der größte deutsche Hafen. Da erklärt sich von selbst, dass Hamburg eine große Rolle spielt und ein wichtiger europäischer Handelsplatz ist. Wenn wir unsere CO2-Ziele erreichen wollen, müssen wir den See- und Schienenverkehr ausbauen. Hamburg hat eine große Zukunft.

Werden Sie zu Spielen während der Fußball-EM in die Ukraine reisen?

Schulz: EU-Kommissionspräsident Barroso und Bundespräsident Gauck wollen die Ukraine wegen des Falls Julia Timoschenko nicht besuchen. Ich tue alles, was ich kann, und habe mehrfach Gespräche mit der ukrainischen Führung geführt, dass der Fall Timoschenko vor Beginn der Fußball-EM gelöst wird. Und ich nehme zur Kenntnis, dass es Bewegung gibt. Ich selbst werde keine Spiele der EM in Polen und der Ukraine besuchen, weil mein Terminkalender zu voll ist.