Nach dem Attentat in der U-Bahn sind die innenpolitischen Probleme des Riesenreichs wieder schlagartig ans Licht gekommen.

Hamburg/Moskau. Der Terrorist kam am frühen Morgen. Auf dem Polizeihauptquartier traten die Beamten gerade zum Appell an, als ein Minibus durch das Tor des Geländes raste. Geladen hatte der Attentäter einen Kofferraum voll Sprengstoff. Die Explosion riss sogar Balkone von benachbarten Häusern. 20 Polizisten starben.

Der Anschlag mitten in der Hauptstadt der Kaukasusrepublik Inguschetien ist bereits einige Monate her - doch die Gewalt im Süden Russlands ist ungebrochen. Und sie dauert schon Jahre an.

Der Westen erfährt davon nicht viel. Meistens erst dann, wenn der Terror vom Kaukasus die Metropolen Russlands erreicht. Bei Attentaten wie am Montag in der Metro von Moskau. Die organisierten Selbstmordattentate zeigen einen "pervertierten Islam", sagt Alexander Rahr von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Wir kennen diese Bilder aus dem Irak und aus Afghanistan. Wir ordnen sie Terroristen von al-Qaida oder Hochburgen der Taliban zu. "Doch es lassen sich Parallelen aufzeigen zwischen Irak, Afghanistan und dem Nordkaukasus", sagt Rahr. Eine Region, die zu Russlands Nahem Osten werden kann. Islamische Republiken wie Dagestan, Inguschetien und Tschetschenien, zusammen so groß wie Österreich, zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, kann das riesige Russland kaum kontrollieren.

Der Islam ist in der Region fest verwurzelt. In Dagestan gibt es Islamuniversitäten, dazu Hunderte Islamschulen. Schon heute sprechen informelle Scharia-Gerichte in den islamischen Republiken Recht. Nicht alle wollen einen Gottesstaat. Doch Clans übernehmen in der Region die Macht und bringen mit bewaffneten Kämpfern Dörfer in den Bergen in ihre Gewalt. Ihre Netzwerke reichen von dort aus bis in die Städte - und wirken tief in die kaukasische Gesellschaft. In vielen Geschäften herrscht Alkoholverbot, auch Beamte in den Behörden und der Polizei werden bestochen. "Ihre Waffen erhalten die Islamisten teilweise von diversen islamistischen Organisationen in Saudi-Arabien und dem Jemen", sagt Rahr.

Im Alltag der Menschen im Kaukasus gehören Mord, Kriege zwischen Banden, Überfälle und Entführungen zum alltäglichen Leben dazu. Im ersten Halbjahr 2009 kamen im Nordkaukasus etwa 300 Menschen durch Anschläge oder Bandenkriege ums Leben, ermittelten die Experten der Webseite "kavkaski usel". Die Anführer der Islamisten rufen zum Dschihad auf. Sie wollen das "Kalifat am Kaukasus" errichten. Es sind vertraute radikale Parolen in einer fremden Region. An der Spitze steht der tschetschenische Terrorist Doku Umarow, der selbst ernannte Emir des Kaukasus. Er soll auch das Attentat auf einen Schnellzug zwischen Moskau und Sankt Petersburg im vergangenen November organisiert haben. "Der Heilige Krieg soll jetzt nach Russland getragen werden", sagt Alexander Rahr.

Weshalb Doku Umarow immer mehr "Heilige Krieger" zulaufen, hat mehrere Gründe. Der Nordkaukasus ist das Armenhaus Russlands. In Inguschetien wird die Arbeitslosenquote gar auf 60 Prozent geschätzt. Junge Männer, die im Kaukasus keine Arbeit mehr finden, werden bei ihrer Jobsuche in Russlands Zentren nur als "Schwarzärsche" bezeichnet, als Bürger zweiter Klasse. Das schürt Widerstand.

Zudem entstand nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Bankrott der sowjetischen Ideologie am Kaukasus ein Vakuum - religiöse und nationalistische Strömungen konnten dieses Loch stopfen. Ein Nationalismus und ein radikaler Islam halten die Menschen in einer Region zusammen, in der Dutzende Völker und Sprachgruppen nebeneinander leben.

Von Premier Wladimir Putin und Präsident Dmitri Medwedew werden nun schnelle Erfolge im Kampf gegen den Terror erwartet. Doch helfen können im Nordkaukasus vor allem langfristige soziale und ökonomische Maßnahmen. "Was man Putin vorwerfen muss, ist sein fehlender Sinn für den Aufbau einer Zivilgesellschaft im Kaukasus", sagt Rahr. Das Geld, das Moskau in den Süden des Landes schickt, versickert zu großen Teilen in den korrupten Bürokratien und den Clans. Spezialeinheiten des russischen Militärs können Ausbildungslager der Dschihadisten sprengen und manchmal Spitzenleute gezielt erschießen. Der Terror ist so jedoch nur schwer zu besiegen. Das hat das Attentat in der Moskauer U-Bahn gezeigt.