Berlin. Die Bundesländer vereinheitlichen Regeln in der Schule: Schreibfehler werden in Deutsch-Aufsätzen nicht gezählt. Was Experten sagen.

Der Aufsatz des Abiturienten ist erstklassig, toller Stil, herausragende Argumentation. Aber bei der Rechtschreibung ist deutlich Luft nach oben, und die Zeichensetzung folgt eher einem grafischen Muster als festen Regeln. Eine gute Note kann es dafür trotzdem geben: Mit Schleswig-Holstein hat eines der letzten Bundesländer den Fehlerquotienten abgeschafft. Damit wird eine Reform umgesetzt, mit der bundesweit die Prüfungsbedingungen vereinheitlicht werden sollen. Nur noch Hessen hält daran fest, die Rechtschreibfehler durch die Gesamtzahl der Wörter zu teilen und so den Fehlerquotienten zu ermitteln, der dann konkret in die Note für den Aufsatz einfließt.

Aber was passiert eigentlich, wenn die Anzahl der Fehler nicht mehr ermittelt wird? Nimmt dadurch die Bedeutung der Rechtschreibung ab? Und wenn das so ist: Was hat das für Folgen? Ist das vielleicht gar nicht so schlimm?

Rechtschreibung in deutschen Schulen

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    Dieser Auffassung ist zumindest Winfried Kretschmann. Vor seinem Leben als grüner Ministerpräsident von Baden-Württemberg unterrichtete er Gymnasiasten in Biologie und Chemie. In einem Interview mit der „Zeit“ sinnierte er nun darüber nach, ob Rechtschreibung überhaupt so wichtig sei, „wenn das Schreibprogramm alles korrigiert“. Tatsächlich ist es selbstverständlich geworden, besagte Programme zu benutzen, die schnell alle Tippfehler nicht nur finden, sondern sie auch automatisch korrigieren. Sie fragen nach, wenn Kommata fehlen, markieren überflüssige Leerzeichen und schlagen sogar vor, Schachtelsätze aufzulösen.

    KI für die Rechtschreibung? „Damit begeben wir uns in die Abhängigkeit von technischen Systemen“

    So praktisch das sei: „Damit begeben wir uns in die Abhängigkeit von technischen Systemen“, sagt Sabine Krome, Geschäftsführerin des Rats für deutsche Rechtschreibung. Sie sieht zwar ein großes Entwicklungspotenzial durch KI – aber auch einen klaren Bedeutungsverlust der Rechtschreibung, und darüber, sagt sie im Gespräch mit dieser Redaktion, sei sie tatsächlich besorgt.

    Befürchtet einen Bedeutungsverlust der Rechtschreibung: Sabine Krome, Geschäftsführerin des Rats für deutsche Sprache.
    Befürchtet einen Bedeutungsverlust der Rechtschreibung: Sabine Krome, Geschäftsführerin des Rats für deutsche Sprache. © Parlamentsdirektion | Johannes Zinner

    Kretschmanns Abwertung der Rechtschreibung hält Krome für regelrecht gefährlich – „gerade in Zeiten der Diskussion über KI und ChatGPT“. Ihre Befürchtung: Authentische Aussagen von Personen könnten nicht mehr von Fake News unterschieden werden.

    Lehrerpräsident Stefan Düll wägt ab. Man dürfe die Rechtschreibung nicht überhöhen. „Ist eine Schülerarbeit inhaltlich erste Sahne, darf man sie auch mit Rechtschreibfehlern gut bewerten“, sagt er dieser Redaktion. Auch ohne Fehlerquotient sei es aber wichtig, „die korrekte Rechtschreibung auch tatsächlich konsequent einzufordern“. Insofern stimme er Kretschmann auch nicht zu. „Eine korrekte Rechtschreibung ist eine Leistung, die von jedem Schulabgänger entsprechend den Anforderungen seines Abschlusses erbracht werden muss.“ Doch dazu müssten Schüler eben auch mit konkreten Texten in Kontakt kommen. „Sie müssen lesen, lesen, lesen – und schreiben“, sagt Düll. Und da reiche die Nutzung von Messengerdiensten mit ihrer automatischen Korrektur und dem eingeschränkten Wortschatz nicht aus, im Gegenteil: WhatsApp und Co. trügen natürlich dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler nachlässig werden – „und damit sprachlos“.

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    Wie Sprachexpertin Krome sieht auch der Lehrerpräsident einen klaren Bedeutungsverlust der Rechtschreibung. Dabei sei sie ein wichtiger Schritt für das Erwachsenwerden. „So schwer ist sie auch nicht, das ist schaffbar“, sagt der Oberstudiendirektor, der in Bayern ein Gymnasium leitet. Wie das am besten funktioniere? „Letztlich lernen wir die richtige Schreibweise auswendig.“

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    Das Schreiben nach Gehör jedenfalls, mit dem in der Vergangenheit der Großteil der Schülerinnen und Schüler konfrontiert wurde, sei der falsche Weg. „Das hat geschadet, das ist inzwischen klar.“ Die Grundschulen seien auch wieder davon abgekehrt. „Es ist ja auch völlig irre, wie viele Möglichkeiten es gibt, etwa einen langen oder kurzen Vokal auszudrücken. Mit Dehnungs-H, mit Doppelvokal oder einfachem Vokal?“ Und noch immer gebe es den Unterschied zwischen „s“, „ss“ und „ß“. „Wer soll das wirklich hören?“

    Hält nichts vom Schreiben nach Gehör: Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.
    Hält nichts vom Schreiben nach Gehör: Stefan Düll, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. © DPA Images | Jörg Ratzsch

    Genau das sei aber eben nicht mehr selbstverständlich. Der Anspruch sei in den vergangenen Jahren immer weiter heruntergeschraubt worden, um auch noch den schwächsten Schüler mitzunehmen. Der Lehrerpräsident kommt zum Schluss: „Das ist Betrug und auch keine Chancengleichheit mehr, denn dann geht die Schere zwischen starken und schwachen Schülern noch mehr auf.“

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    Auch Sprachhüterin Sabine Krome beobachtet ein Sinken des Niveaus. Die Pisa-Studien zeigten ja bereits, dass die Fähigkeiten im Lesen und Schreiben zurückgegangen seien. Die Bewertung der Abschaffung von Fehlerquotienten will sie nicht beurteilen, „das sollten Bildungsexperten beantworten“. Klar sei aber: „Wenn man Standards heruntersetzt, wird die Leistung vermutlich nicht besser.“ Regelrecht entsetzt ist sie über die zweite Fragestellung, der sich Baden-Württembergs Ministerpräsident hingibt: „Wenn das Handy Gespräche in fast jede Sprache der Welt in Echtzeit übersetzen kann – brauchen wir dann noch eine zweite Fremdsprache in der Schule als Pflichtfach?“

    Für Sabine Krome ist es ein abwegiger Gedanke, künftigen Schülergenerationen etwa den Französischunterricht zu ersparen und auf KI zu setzen, so ausgefeilt sie auch künftig sein mag. Eine spontane Kommunikation hält sie jedenfalls für „so gut wie ausgeschlossen“.