Belfast. Michelle O’Neill ist am Samstag als Regierungschefin von Nordirland angetreten. Die 47-Jährige könnte einiges verändern.

Mit einem breiten Lächeln betrat Michelle O’Neill am Samstagnachmittag den Versammlungsraum des nordirischen Parlaments – wohl wissend, an diesem Tag Geschichte zu schreiben. Zum ersten Mal seit der Gründung Nordirlands vor über 100 Jahren trat in Belfast eine irisch-nationalistische Politikerin als Regierungschefin an. O’Neill ist die Vizevorsitzende der Partei Sinn Féin, die sich die Wiedervereinigung mit der Republik Irland auf die Fahne geschrieben hat. „Dies ist ein historischer Tag, der eine neue Morgendämmerung repräsentiert“, sagte sie bei ihrer Antrittsrede.

Die Ernennung O’Neills zur „First Minister“ hat in Nordirland große Symbolkraft. 1921, als Irland sich von Großbritannien abspaltete und unabhängig wurde, blieb der nördliche Landesteil britisch. Die Grenze zu Irland wurde so gezogen, dass die pro-britischen Protestanten die Bevölkerungsmehrheit stellen – so wollte man sichergehen, dass Nordirland pro-britisch bleibt. „Dass ein solcher Tag einmal kommen würde, wäre für die Generation meiner Eltern und Großeltern unvorstellbar gewesen“, sagte O’Neill bei ihrem Amtsantritt.

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Nordirland: O’Neills Vater saß Gefängnis, zwei ihrer Cousins wurde getötet

Die heute 47-Jährige wurde in einem Dorf im westlichen Nordirland geboren und wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Ihre Familie war stramm katholisch-republikanisch. Ihr Vater war früher Mitglied der militanten Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die während des Nordirlandkonflikts den bewaffneten Kampf gegen die britische Herrschaft anführte; er saß dafür im Gefängnis. Zwei ihrer Cousins, die ebenfalls IRA-Mitglieder waren, wurden während des Bürgerkriegs getötet.

O’Neill trat nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens von 1998 in die Politik ein. Sie wurde Mitglied von Sinn Féin und arbeitete zunächst als Beraterin für einen Parlamentsabgeordneten. Nach zwei Jahren als Gemeinderätin ging es für sie 2007 nach Belfast, O’Neill wurde ins nordirische Parlament gewählt. Ihr erstes wichtiges Amt bekleidete sie 2011, als sie zur Landwirtschaftsministerin ernannt wurde. Später übernahm sie das Gesundheitsressort. Der große Karrieresprung kam 2017: O’Neill, damals 40 Jahre alt, wurde zur Sinn-Féin-Vizechefin ernannt.

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Neue Regierungschefin sorgte immer wieder für Kontroversen

Hin und wieder sorgte sie für Kontroversen. 2017 beispielsweise wohnte sie einer Gedenkkundgebung für acht IRA-Militante bei. Diese wurden 1987 durch ein britisches Spezialkommando getötet, nachdem sie eine Polizeistation angegriffen hatten. O’Neill verteidigte ihre Teilnahme an der Kundgebung: Sie sei eine irische Republikanerin und werde „immer unserer patriotischen Gefallenen gedenken.“

Michelle O‘Neill (rechts), nachdem sie am Samstag zur „Ersten Ministerin“ Nordirlands gewählt wurde.
Michelle O‘Neill (rechts), nachdem sie am Samstag zur „Ersten Ministerin“ Nordirlands gewählt wurde. © DPA Images | Liam Mcburney

Drei Jahre später, im Juni 2020, sah man sie bei einem Trauergottesdienst für das ehemalige IRA-Mitglied Bobby Story. Sie wurde beschuldigt, gegen die damals geltenden Covid-Beschränkungen verstoßen zu haben. Erneut gab sie sich reuelos: Sie werde sich nie dafür entschuldigen, dem Begräbnis eines Freunds beizuwohnen. Später allerdings entschuldigte sie sich dafür, die Coronaregeln missachtet zu haben.

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Vor zwei Jahren traf sich O’Neill mit König Charles III. – und wirkt seitdem milder

2020 wurde sie zur stellvertretenden Ersten Ministerin Nordirlands ernannt – damit war sie Co-Regierungschefin in Belfast. Ihren größten Triumph erlangte sie bei den Wahlen 2022, als Sinn Féin zum ersten Mal in der nordirischen Geschichte die stärkste Partei wurde.

O’Neill zeigte sich zunehmend milder. Im September 2022 traf sie sich mit dem neu ernannten König Charles III. – ein großer Schritt für eine irische Republikanerin, die die britische Herrschaft über Nordirland ablehnt. „Was seid ihr jetzt – die größte Partei?“, fragte der König während der kurzen Unterredung. „In der Tat“, antwortete O’Neill. Allerdings musste sie noch fast zwei Jahre warten, bis sie ihr Amt antreten konnte.

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