Belfast. Erstmals in der Geschichte Nordirlands wird die katholisch-republikanische Sinn Fein stärkste Kraft im Parlament. Was das bedeutet.

Es ist ein historisches Wahlergebnis. Die katholisch-republikanische Partei Sinn Fein ist erstmals als stärkste Kraft bei der Parlamentswahl in Nordirland hervorgegangen. Das stand nach Auszählung der meisten Stimmen am Samstagabend fest. Demnach errang die einst als politischer Arm der militanten Organisation IRA geltende Partei mindestens 27 der 90 Sitze in der Northern Ireland Assembly. Sinn Fein löst damit die protestantisch-unionistische DUP als stärkste Kraft ab, die schwere Verluste hinnehmen musste.

Der Triumph von Sinn Féin verdankt sich einerseits den Fehlern der DUP, nicht zuletzt deren vermasselter Brexit-Politik. Zur Erinnerung: Die DUP war – im Gegensatz zur Mehrheit der Nordiren – eine glühende Befürworterin des EU-Austritts, man versprach sich eine stärkere Anbindung an Großbritannien. Eingetreten ist das genaue Gegenteil, nämlich eine Zollgrenze in der Irischen See, und damit allerhand Probleme für nordirische Unternehmen.

Viele gemäßigte Unionisten haben deswegen vermehrt für die Alliance Party gestimmt, eine liberale Zentrumspartei, die sich weder mit dem unionistischen noch mit dem nationalistischen Lager identifiziert.

Nordirland: Sinn Féin blickt in die Zukunft

Aber der Niedergang der DUP ist nicht nur dem Brexit geschuldet. In einer Zeit, in der sich die nordirische Gesellschaft bewegt, sowohl in konstitutionellen wie auch sozialen Fragen, bleibt die Partei hartnäckig in der Vergangenheit sitzen. Sie lehnt die gleichgeschlechtliche Ehe und das Abtreibungsrecht weiterhin ab und vermag jüngere Protestanten damit immer weniger zu repräsentieren. Auch dass die DUP völlig auf die konstitutionelle Frage eingeschossen ist, befremdet viele jüngere Unionisten, für die politische Identitäten weit weniger wichtig sind. Lesen Sie auch: USA: Recht auf Abtreibung steht nach 50 Jahren vor dem Aus

Demgegenüber blickt Sinn Féin in die Zukunft. Sie hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend vom früheren sozialen Konservatismus verabschiedet, unterstützt heute das Abtreibungsrecht und die gleichgeschlechtliche Ehe. Auch ist sie explizit pro-europäisch.
Zudem ist Sinn Féin bemüht, ihre Rolle im bewaffneten Konflikt, der bis Mitte der 1990er-Jahre andauerte, vergessen zu machen. Wurde die Partei früher lediglich als der politische Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gesehen, ist diese Assoziation mittlerweile für viele Nordiren weit weniger relevant geworden. Dieser Imagewandel wird dadurch begünstigt, dass auch viele Sinn-Féin-Politiker, etwa die 45-jährige Michelle O’Neill, einer neuen Generation von Nationalisten angehören.

Michelle O'Neill, Spitzenkandidatin der nordirischen Partei Sinn Fein.
Michelle O'Neill, Spitzenkandidatin der nordirischen Partei Sinn Fein. © Liam Mcburney/PA Wire/dpa

Nordirland: Keine Abstimmung über Zusammenschluss mit Irland in Sicht

Sinn Féin hat während des Wahlkampfs denn auch die konstitutionelle Zukunft Nordirlands nicht zum Hauptthema gemacht. Stattdessen hat sie über alltägliche Probleme gesprochen: die Krise der Lebenshaltungskosten, steigende Mieten, der bröckelnde Gesundheitsdienst NHS. „Das war ein cleverer Schachzug von Sinn Féin, denn dadurch ließen sie die DUP rückwärtsgewandter erscheinen“, sagt Peter McLoughlin, Politologe an der Queen’s University in Belfast.

Trotz des Triumphs von Sinn Féin wird es in nächster Zukunft keine Abstimmung über einen Zusammenschluss mit Irland geben. Damit ein solcher border poll stattfinden kann, muss die Regierung in London die Zustimmung geben. Sie wird es erst dann tun, wenn sich abzeichnet, dass ein großer Teil der nordirischen Bevölkerung einer Wiedervereinigung zustimmen würde. Laut einer neueren Umfrage würden jedoch weniger als ein Drittel der Nordiren derzeit für ein vereinigtes Irland stimmen.

Kommt es erneut zu Gewalt zwischen Unionisten und Republikanern?

Unmittelbar ist andere konstitutionelle Frage am akutesten: Wie geht es weiter mit der Regierung in Belfast? Denn die DUP hat bereits angekündigt, dass sie sich nicht an einer Regierung beteiligen will, solange das Nordirland-Protokoll nicht über Bord geworfen würde. Politologe McLoughlin befürchtet, dass jetzt ein monatelanges politisches Patt kommt. „Es wird viel abhängen von dem, was Boris Johnson jetzt macht: Wird er Druck ausüben auf die Unionisten, um ihnen klarzumachen, dass es keine bessere Alternative zum Protokoll gibt?“

Je länger eine solche festgefahrene politische Situation andauere, desto gefährlicher könne es werden. Einen größeren Ausbruch der Gewalt zwischen Unionisten und Republikanern befürchtet er zwar nicht, aber die ökonomischen Probleme in Nordirland können Extremismus begünstigen. „Wir müssen zeigen, dass die Politik funktioniert“, sagt McLoughlin.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de.