Berlin. Mit Bürgergeld lohne sich Arbeit nicht mehr, sagt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Experten kritisieren seine Behauptung.

Es ist keine neue Debatte, die der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (ehemals Grüne) entfacht hat – aber eine, die immer wieder für hitzige Diskussionen sorgt: Lohnt sich Arbeit im Mindest- oder Niedriglohnsektor bei der aktuellen Höhe der Bürgergeld-Bezüge noch? In einem Post auf Facebook zweifelte Palmer dies nun an. Er habe mithilfe eines Online-Rechners geprüft, wie hoch der Bürgergeld-Anspruch seiner Familie theoretisch wäre, schrieb Palmer dort. Demnach kämen er, seine Frau und ihre zwei Kinder auf 3868 Euro, beziehungsweise 3368 Euro abzüglich 500 Euro anzurechnendes Einkommen durch das Kindergeld.

„Da wird man nicht reich. Aber wenn ich Alleinverdiener wäre, müsste ich schon um die 4500 brutto heim bringen, um dasselbe zu erreichen“, führte der Politiker weiter aus. Sein Fazit: Wenn es sich kaum noch lohne, Jobs im unteren bis mittleren Teil des Lohnsegments anzunehmen, dann sei ein Bürgergeld in dieser Höhe „unsozial“ gegenüber „denen, die mit eigener Arbeit ihr Leben finanzieren“. Palmers Post wurde rund 5000-mal gelikt und fast genauso oft geteilt. Der Tübinger Oberbürgermeister erntete allerdings nicht nur zustimmende Reaktionen, sondern auch Kritik. Palmer legte daraufhin mit einem weiteren Post nach, in dem er seine Aussage bekräftigte. „Die Frage an diejenigen, die empört sind, weil das Beispiel irreführend sei, lautet also: Sind sie empört über die Wahrheit?“, schrieb Palmer.

Experte über Bürgergeld-Aussage: „Vergleicht Äpfel mit Birnen“

Doch so einfach, wie Palmer die Situation hier darstellt, ist sie nicht. Zunächst einmal ist nicht klar erkennbar, welche Werte – etwa bei der Höhe der Miete – Palmer seiner Berechnung zugrunde gelegt hat. Grundsätzlich seien die vom Tübinger Oberbürgermeister berechneten Bezüge allerdings nicht unplausibel, sagt Andreas Peichl, Leiter des Ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen. Doch Palmer vergleiche hier Äpfel mit Birnen. Den Bürgergeldanspruch einem reinen Brutto-Einkommen gegenüberzustellen, ohne dabei weitere Transferleistungen zu berücksichtigen, sei keine sinnvolle Rechnung, erklärt der Experte. Zu den Transferleistungen zählen etwa das Wohngeld oder der Kinderzuschlag, den Eltern mit niedrigem Einkommen beantragen können.

Wer hingegen ein so hohes Vermögen habe, dass kein Anspruch auf Leistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag bestehe, habe auch keinen Anspruch auf Bürgergeld, sagt Peichl. Ansonsten müssten beim Bruttoverdienst auch Transferleistungen einberechnet werden. Damit jedoch läge das Netto-Einkommen der arbeitenden Person auf jeden Fall über der Bürgergeld-Summe. „Denn es gilt immer: Wer arbeitet, hat netto mehr als jemand, der nicht arbeitet“, so Peichl.

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Auswertung zeigt: Wer arbeitet hat mehr Geld zur Verfügung als mit Bürgergeld

Nicht beachtet hat Palmer beim Bruttoverdienst zudem das Kindergeld in Höhe von 500 Euro, auf das Eltern in dem Fall unabhängig vom Einkommen einen Anspruch hätten. Darauf weist auch Eric Seils vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hin. „Ganz offensichtlich hat Herr Palmer das Wohngeld, Kindergeld und den Kinderzuschlag vergessen“, sagt Seils. Zudem lasse er auch die Möglichkeit außen vor, „aufstockend“ Bürgergeld zu beziehen – also bei einem niedrigen Einkommen zusätzlich Bürgergeld zu bekommen. Der Vergleich funktioniere daher so nicht. Unklar sei zudem, ob die Miete überhaupt langfristig übernommen werden würde, da der genaue Betrag nicht bekannt sei. Grundsätzlich werden im Bürgergeld die Heizkosten und die Miete in „angemessener Höhe“ übernommen – ob das der Fall ist, wird immer individuell durch das jeweilige Jobcenter entschieden. Stromkosten hingegen müssen selbst getragen werden.

Erst im Oktober hatte das WSI im Auftrag des ARD-Magazins „Monitor“ berechnet, wie hoch die Differenz zwischen einem Einkommen mit Mindestlohn und dem Bürgergeld-Anspruch liegt. Das Ergebnis des Instituts: Alleinstehende, die in Vollzeit zum Mindestlohn arbeiten, kamen durchschnittlich auf 532 Euro mehr, Familien mit drei Kindern und einem Mindestlohneinkommen je nach Alter der Kinder auf 429 bis 771 Euro mehr. Zu ähnlichen Ergebnissen waren bereits zuvor Berechnungen anderer Institute gekommen.