Ankara. Neue Erfahrung für Präsident Erdogan: Er muss sich seinem sozialdemokratischen Herausforderer Kilicdaroglu in einer Stichwahl stellen.

Die Präsidentenwahl in der Türkei geht in eine zweite Runde. Bei der Abstimmung am Sonntag bekam der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan zwar die meisten Stimmen, blieb aber unter der für eine Wahl erforderlichen absoluten Mehrheit. Erdogan geht als Favorit in die Stichwahl am 28. Mai. Der Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu gibt sich aber noch nicht geschlagen.

Für Recep Tayyip Erdogan ist es eine neue Erfahrung. Seit fast 30 Jahren, als er seine politische Karriere mit der Bewerbung um das Amt des Oberbürgermeisters in Istanbul begann, hat er ein Dutzend Wahlen im ersten Anlauf gewonnen. 2003 wurde er Regierungschef, seit 2014 ist er Präsident. Zuletzt bestätigten ihn die Türkinnen und Türken 2018 mit 52,6 Prozent als Staatschef.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält nach der Präsidentenwahl eine Rede in der Parteizentrale in Ankara.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält nach der Präsidentenwahl eine Rede in der Parteizentrale in Ankara. © Ali Unal/AP/dpa

Stichwahl in der Türkei: Erdogan gibt sich demütig

Doch diesmal reichte es nicht. Der 69-jährige Staatschef muss sich einer Stichwahl stellen. In der ersten Runde am Sonntag verfehlte Erdogan nach Angaben der Wahlbehörde mit 49,51 Prozent knapp die erforderliche absolute Mehrheit. Der vom Erfolg verwöhnte Präsident gibt sich demütig: „Wenn sich meine Nation für eine zweite Runde entschieden hat, ist auch das willkommen“, rief Erdogan am frühen Montagmorgen vom Balkon seines Partei-Hauptquartiers in Ankara den versammelten Anhängern zu. „Ich glaube von ganzem Herzen, dass wir unserer Nation auch in den kommenden fünf Jahren dienen werden“, sagte Erdogan unter dem Jubel des Publikums.

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Auch Kemal Kilicdaroglu nimmt das Votum vom Sonntag an: „Wenn die Nation sagt ‚zweiter Durchgang‘, respektieren wir das.“ Als gemeinsamer Kandidat von sechs Oppositionsparteien kam Kilicdaroglu auf 44,88 Prozent. Es war das beste Ergebnis, das jemals ein Oppositionskandidat gegen Erdogan erzielte. Aber eben nicht genug für einen Sieg. Kilicdaroglu gibt sich dennoch zuversichtlich: „Wir werden die zweite Runde absolut gewinnen.“

Türkei: Präsidentschaftswahl geht offenbar in zweite Runde

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    Das hatte der 74-Jährige allerdings schon vor dem ersten Durchgang versprochen. Manche Demoskopen bestärkten ihn in diesem Glauben. In einigen Umfragen lag Kilicdaroglu mit knapp über 50 Prozent deutlich vor Erdogan. Noch am Sonntagabend, als Erdogan bei der Stimmenauszählung deutlich führte, twitterte Kilicdaroglu: „Wir liegen vorn!“ Aber es sollte anders kommen. Erdogan bekam am Sonntag 2,4 Millionen mehr Stimmen als Kilicdaroglu – ein Vorsprung, der für den Oppositionskandidaten schwer aufzuholen sein wird.

    WahlTürkei-Wahl 2023
    (Stichwahl)
    DatumSonntag (28. Mai 2023)
    OrtTürkei
    Gewählt wirdPräsident
    Wahlberechtigt sindRund 64 Millionen Menschen
    Kandidaten für PräsidentenamtRecep Tayyip Erdoğan (69) und Kemal Kılıçdaroğlu (74)

    Türkei: Immer wieder hohe Wahlbeteiligung

    Die Wahlbeteiligung ist in der Türkei traditionell sehr hoch. Bei den Wahlen von 2018 lag sie bei 86,2 Prozent. Diesmal waren es nach Angaben der Wahlbehörde sogar 89 Prozent. Es gab aber einige Unregelmäßigkeiten. Oppositionspolitiker warfen der Wahlbehörde und den Staatsmedien „Manipulationen“ vor. So sollen die Stimmen in den Erdogan-Hochburgen zuerst ausgezählt worden sein.

    Zugleich seien die Auszählungen in Wahlkreisen, in denen Kilicdaroglu vorn lag, immer wieder behindert worden, klagten Oppositionspolitiker. Das führte dazu, dass die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu und das Staatsfernsehen TRT anfangs für Erdogan Stimmenanteile von rund 60 Prozent meldeten.

    Kemal Kilicdaroglu spricht in der Parteizentrale in Ankara.
    Kemal Kilicdaroglu spricht in der Parteizentrale in Ankara. © -/AP/dpa

    Im Lauf der Auszählung schmolz dieser Vorsprung aber immer weiter zusammen und fiel am späten Abend unter die 50-Prozent-Hürde, die Erdogan im ersten Durchgang zu einer Wiederwahl hätte nehmen müssen. Vereinzelt gab es auch Berichte über Unregelmäßigkeiten in den Wahllokalen. Systematische Wahlfälschungen in größerem Stil, wie sie manche Regierungskritiker befürchtet hatten, gab es aber offenbar nicht.

    Wahlkampf in der Türkei: Koalitionspartner drohte Regierungskritikern

    Von einem fairen Wahlkampf kann allerdings keine Rede sein. Erdogan-nahe Unternehmer kontrollieren 90 Prozent der türkischen Presse und der Massenmedien. Das Staatsfernsehen TRT übertrug allein im Monat April 32 Stunden lang Kundgebungen und Interviews mit Erdogan. Dem Oppositionskandidaten Kilicdaroglu widmete TRT dagegen ganze 32 Minuten Sendezeit. Das Regierungslager polarisierte im Wahlkampf: Erdogan beschimpfte Oppositionspolitiker als „Säufer“ und „Terroristen“. Sein ultra-nationalistischer Koalitionspartner Devlet Bahceli drohte Regierungskritikern, auf sie warteten nach der Wahl „lebenslange Haftstrafen oder Kugeln in ihren Körpern“.

    Das ist ein Vorgeschmack auf das, was die Türkei in den nächsten zwei Wochen erleben dürfte. Vor der Stichwahl wird Erdogan noch einmal alle Register ziehen, seinen Gegner attackieren und weitere Wahlgeschenke verteilen. Schon in den vergangenen Wochen hatte Erdogan den Beschäftigten im öffentlichen Dienst massive Lohnerhöhungen versprochen. Ob er seine Zusagen angesichts der desolaten Wirtschaftslage dann auch finanzieren kann, steht auf einem anderen Blatt.

    Hundert-Lira-Noten mit dem Konterfei von Staatsgründer Atatürk.
    Hundert-Lira-Noten mit dem Konterfei von Staatsgründer Atatürk. © Sadat/XinHua/dpa

    Erdogan geht nicht nur mit einem Vorsprung von 2,4 Millionen Stimmen als Favorit in die Stichwahl. Helfen wird ihm auch, dass seine Volksallianz im neuen Parlament, das ebenfalls am Sonntag gewählt wurde, die absolute Mehrheit der Mandate verteidigen konnte. Dem Wahlbündnis gehören unter Führung von Erdogans islamisch-konservativer AKP die neofaschistische MHP und weitere ultrarechte sowie islamistische Splittergruppen an.

    Erdogan und Kilicdaroglu: Konkurrent Sinan Ogan könnte Zünglein an der Waage sein

    Die Allianz kam nach den am Montag vorliegenden Auszählungsergebnisse auf 49,37 Prozent der Stimmen. Nach Berechnungen des TV-Senders CNN-Türk reicht das für 321 der 600 Parlamentssitze. Erdogan rief die Wähler auf, sich in der Stichwahl für „Sicherheit und Stabilität“ zu entscheiden – eine Anspielung darauf, dass sich bei einer Wahl von Kilicdaroglu das Parlament und der Präsident gegenseitig blockieren könnten.

    Derweil richten sich nun die Blicke in der Türkei auf Sinan Ogan, den Drittplatzierten der Wahl vom Sonntag. Der Kandidat der ultra-nationalistischen Ata-Allianz schnitt mit 5,2 Prozent deutlich besser ab als von den Meinungsforschern vorhergesagt. Seine 2,8 Millionen Wähler könnten bei der Stichwahl am übernächsten Sonntag den Ausschlag geben. Bisher hat er keine Wahlempfehlung für einen der beiden Kandidaten abgegeben. Ogan will sich erst einmal mit seinen Parteifreunden beraten. Er sieht sich jetzt in der Rolle des Königsmachers: „Unser Volk kann beruhigt sein“, sagte er in der Nacht zum Montag in Ankara. „Wir werden niemals zulassen, dass die Türkei in eine Krise gerät.“