Belin. FDP-Chef Christian Lindner ist seit zehn Jahren Parteichef, ein Ende ist nicht in Sicht. Eine Nahaufnahme zum Parteitag in Berlin.

Zehn Jahre Frontmann: Christian Lindner steht seit einem Jahrzehnt an der Spitze der FDP – nicht ausgeschlossen, dass noch ein zweites folgt. Lindner ist der Marathonmann der Liberalen. Die jüngste Holperstrecke der Ampelkoalition hat ihm nicht den Stecker gezogen – im Gegenteil: es läuft für Lindner. Am besten in der eigenen Echokammer. Doch der Spitzenjob hat auch eine Schattenseite.

Der Mann polarisiert. Immer schon. Die einen lieben ihn für sein Nein zum Tempolimit, zum Verbrenner-Aus, zum Aufweichen der Schuldenbremse, zum finalen Abschalten der Atomkraftwerke. Die anderen halten den Nein-Sager für Deutschlands obersten Klimaschutzverhinderer.

Lindner über Autofahrer und Fahrradfahrer: "Wir urteilen nicht über Lebensstile"

Im Moment, so scheint es, trifft Lindner oft ziemlich genau die Gemütslage einer von Krisen ermüdeten Gesellschaft: Beim Streit um Robert Habecks Heizungsgesetz konnte Lindner sicher sein, dass er mit seinem beherzten Tritt auf die Bremse viele Hausbesitzer auf seiner Seite hatte. Bei seiner Sympathie für die Atomkraft weiß er viele hinter sich.

Mit Blick auf die Schmerzpunkte der Klimadebatte, auf Autofahrer, Autobahnen und Alltagssorgen, dürfte das nicht anders sein: "Wir urteilen nicht über Lebensstile", sagt Lindner am Freitag beim Bundesparteitag der FDP in Berlin. "Das Leben mit Verbrennungsmotor im Thüringer Wald ist nicht besser oder schlechter als das Leben mit Lastenfahrrad am Prenzlauer Berg."

Er sehe mit Sorge eine gewisse Sympathie in der öffentlichen Diskussion über die Klimakleber und deren vermeintlich edle Motive. Nein, meint Lindner, Straßenblockaden seien ganz klar physische Gewalt. Und: FDP-Verkehrsminister Volker Wissing mache mehr für den Klimaschutz als die Forderungen der Letzten Generation: "9-Euro-Ticket und Tempolimit – das sind ganz kleine Ideen", rügt Lindner unter dem Applaus seiner Partei. Spätestens hier dürften ihm draußen im Land jedoch die allermeisten widersprechen.

Christian Lindner bei seiner Parteitagsrede in der Berliner „Station“.
Christian Lindner bei seiner Parteitagsrede in der Berliner „Station“. © dpa | Christoph Soeder

FDP-Chef: Unangefochten in seiner Partei, Traumjob im Kabinett

Lindner gefällt sich sichtbar in der Rolle des Bürgerverstehers – und er weiß Kanzler Olaf Scholz zumindest in diesem Punkt an seiner Seite: "Wir brauchen die Zustimmung der Bevölkerung. Die breite Mehrheit muss mitziehen." Und er setzt nach: "Beim Tun aber auch bei der Wahlurne." Die Wahlurne ist der Ort, wo besonders bei Liberalen schnell der Angstpegel hochgeht. Sollte Lindner Angst haben, hat er sie gerade gut im Griff.

Man muss sich den Mann an der Spitze der FDP in diesen Tagen deswegen als zufriedenen Menschen vorstellen, zumindest auf den ersten Blick. Unangefochten in seiner Partei. Durchsetzungsstark in der Ampel-Koalition. Traumjobinhaber im Finanzministerium. Und ganz aktuell auch nicht mehr Verwalter einer Partei, die mit dem Rauswurf aus dem Parlament rechnen muss: Die Umfragen sahen die Liberalen nach dem aus Parteisicht erfolgreichen Abwehrkampf gegen die ambitionierte grüne Klimaschutzpolitik zuletzt zeitweise schon wieder bei acht Prozent. Balsam für die liberale Seele.

Lindners Wiederwahl als Parteichef ist inzwischen Routinesache. Von Gegenkandidaten auch diesmal keine Spur, mögliche Nachfolger halten die Füße still. Das dürfte sich auch in der nächsten Runde nicht ändern: 2025 ist wieder Bundestagswahl. Lindner wird nach jetzigem Stand seine Partei in den Wahlkampf führen. Während die Grünen die heikle K-Frage, das absehbare Duell zwischen Annalena Baerbock oder Robert Habeck, noch lange vor sich herschieben werden, ist die FDP wie eh und je auf Lindner-Linie. Seit Monaten denkt der Parteichef deswegen auch schon laut über eine Fortsetzung der Ampel-Koalition nach – nicht aus leidenschaftlicher Liebe für Rote und Grüne, sondern aus Kalkulation: Besser weiterregieren als nicht regieren.

Die FDP kann sich nicht mehr auf die CDU verlassen

Die Ampel ist nicht Lindners Traumbündnis, aber wie es aktuell aussieht, wohl die einzige realistische Regierungsoption für die FDP. Selbst wenn es rechnerisch doch noch für eine Koalition mit der Union reichen würde – die Liberalen können sich auf die CDU nicht mehr verlassen. In Schleswig-Holstein etwa entschied sich CDU-Wahlsieger Daniel Günther für ein Bündnis mit den Grünen – und gab der FDP einen Korb.

Mehrmals sah es schon so aus, als würde Marathonmann Lindner die Luft ausgehen: Fünf Landtagswahlen, fünfmal verloren. Seit die FDP in der Regierung sitzt, muss der Parteichef alle paar Monate bittere Niederlagen weglächeln. Eine Trendwende ist vorläufig nicht in Sicht, bei der nächsten Landtagswahl Mitte Mai in Bremen droht erneut ein Schlag ins Kontor. Im Herbst, bei der Wahl in Bayern, machen die Freien Wähler der FDP Konkurrenz. Sie trösten sich jetzt schon mal vorsorglich: Guido Westerwelle musste in Bayern als Generalsekretär mal ein Ergebnis mit einer eins vor dem Komma erklären. Alle Hoffnung richtet sich deswegen jetzt auf die Europawahl im Frühjahr 2024.

Lindner schickt Strack-Zimmermann nach Brüssel - ein doppelter Coup

Anders als in den Ländern, wo der Bekanntheitsgrad der liberalen Spitzenkandidaten oft in Bodennähe bleibt, hat Lindner jetzt einen doppelten Personal-Coup gelandet: Marie-Agnes Strack-Zimmermann soll FDP-Frontfrau für Europa werden. Die Verteidigungspolitikerin ist für die FDP die ideale Kandidatin – so bekannt wie Christian Lindner, so unüberhörbar wie Wolfgang Kubicki, so furchtlos wie beide zusammen.

Doppelt ist Lindners Coup, weil er sich leicht auch als fürsorgliche Abschiebung deuten lässt. Strack-Zimmermann schert sich wenig um Parteidisziplin, folgt ihrem eigenen Kompass und gehört damit in die Kategorie unkontrollierbarer Kollegen, deren Zahl Lindner am liebsten so klein wie möglich halten will. Reicht ja, wenn Parteivize Wolfgang Kubicki mindestens einmal pro Woche Lindners staatsmännischen Regierungston mit schrillen Hardrock-Einlagen überstimmt.

Lindner braucht sie am Ende jedoch beide: Die rheinische Freidenkerin, die in akademischen Großstadtkreisen gefeiert wird. Und den norddeutschen Haudegen, der am Stammtisch die Temperatur erhöht und garantiert, dass auch diejenigen FDP-Anhänger, denen ihre Partei zu weit in die Mitte gerückt ist, bei der Stange bleiben.

Lindner über den Spitzenjob: Enormer Zeitneinsatz und persönliche Angriffe

Gerade denen muss Lindner beim Parteitag einiges erklären: Warum die FDP denn nicht mit der CDU für längere Laufzeiten für die Atomkraftwerke gestimmt habe? Ganz einfach, sagt Lindner: Weil man das nicht macht, wechselnde Mehrheiten sind der Tod jeder Koalition. SPD und Grüne hielten sich schließlich auch daran. "Ich hätte nicht gedacht, dass man das so oft erklären muss." Es klingt, als sei der Marathonmann nun doch etwas dünnhäutig.

Ganz am Ende seiner Rede wird Lindner noch einmal persönlich und spricht über die Schattenseite des Spitzenjobs. "Der enorme Zeiteinsatz, und auch vielleicht mancher Angriff, Versuche sogar, das Privatleben zu skandalisieren - das ist ein gewisser Preis,, den man als Vorsitzender der Freien Demokraten zahlt." Aber egal: "Ich habe noch viel vor." Sein Ziel: "Ein modernes, nicht-linkes Deutschland." Sein Lohn: Wiederwahl mit 88 Prozent.