Jerusalem. Premier Benjamin Netanjahu gerät weiter unter Druck – sogar aus den eigenen Reihen. Jetzt wird die umstrittene Justizreform verschoben.

  • In Israel ist Premier Benjamin Netanjahu weiter unter Druck geraten
  • Am Montagabend kündigte Polizeiminister Ben-Gvir nun an: Die umstrittene Justizreform wird verschoben
  • Im Gegenzug wird aber eine neue "Nationalgarde" unter Führung des rechtsextremen Ministers eingeführt

Benjamin Netanjahu hat sich verschätzt. Als der israelische Ministerpräsident am späten Sonntagabend Verteidigungsminister Joav Gallant feuerte, weil dieser sich für einen Stopp der umstrittenen Justizreform ausgesprochen hatte, hat er seine Rechnung ohne die Israelis gemacht. Hunderttausende Menschen gingen kurz danach auf die Straße, Tausende harrten die ganze Nacht über aus, blockierten Autobahnen, wärmten sich an Lagerfeuern. Sie schrien „Hier ist die Demokratie im Wort!“, und sie riefen „Israel ist keine Diktatur!“

Am nächsten Morgen schlossen sich weite Teile der israelischen Öffentlichkeit dem Protest an. Alle Universitäten streikten, Krankenhäuser und Kliniken stellten auf Notbetrieb um, Rathäuser sperrten zu. Sogar der Flughafen Tel Aviv stellte den Betrieb weitgehend ein. Der Verband der Gewerkschaften rief den Generalstreik aus – zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Sogar in den diplomatischen Vertretungen Israels im Ausland wurde am Montag zum Teil gestreikt. Israels Generalkonsul in New York trat aus Protest zurück - „um mich dem nationalen Kampf um Israels Zukunft anzuschließen“, wie er erklärte.

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Proteste in Jerusalem laufen auf Hochtouren

Hochbetrieb herrschte dagegen auf den Bahnlinien Richtung Jerusalem: Alles strömte am Montag in die Stadt, in der sich das Parlament, der Sitz des Ministerpräsidenten und des Staatspräsidenten befinden. Über das Stadtzentrum Jerusalems hinaus war das Pfeifen, Tröten und Trommeln der Demonstranten zu hören.

Israelis protestierengegen gegen die Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Galant und die Pläne der Regierung, das Justizsystem zu reformieren.
Israelis protestierengegen gegen die Entlassung des israelischen Verteidigungsministers Galant und die Pläne der Regierung, das Justizsystem zu reformieren. © dpa | Ilia Yefimovich

Am Nachmittag traten auch prominente israelische Politiker vor die Massen, die nahe dem Parlamentsgebäude gegen die Regierung demonstrierten. Jair Lapid, bis Dezember Israels Ministerpräsident und heute Oppositionsführer, bezeichnete die Menschen als „wahre Patrioten“. Er fügte hinzu: „Ihr werdet sehen, sie werden unsere Werte respektieren!“ Lapid bezeichnete das Vorgehen der Regierung als „feindliche Übernahme durch messianische Nationalisten“. Er rief die Massen auf, jetzt nicht müde zu werden. „Wir werden nicht klein beigeben, bis Israel eine Verfassung hat!“, rief Lapid.

Verteidigungsminister Gallant: Regierungspläne seien Bedrohung für Israels Sicherheit

Am Sonntag hatte Verteidigungsminister Gallant erklärt, er könne es nicht mehr verantworten, den Kurs der Regierung mitzutragen. Der Plan der Regierung, die Gewaltenteilung im Staat abzuschaffen, „hat eine Kluft in unserem Land aufgerissen, die eine klare und unmittelbare Bedrohung für Israels nationale Sicherheit darstellt“, rügte Gallant.

Einen Tag danach enthob Netanjahu den Minister seines Amtes. Der Ministerpräsident scheint gedacht zu haben, mit der Beseitigung einer kritischen Stimme in der Regierung die gesamte Kritik verstummen lassen zu können. Ein gewaltiger Irrtum, wie sich bald herausstellte. Der geschasste Verteidigungsminister hatte nicht nur den Rückhalt von weiten Teilen der Armee, sondern auch von einigen seiner Parteifreunde – also von den Funktionären jener Partei, deren Chef Netanjahu ist. Einige Abgeordnete der Likud-Partei haben Netanjahu dazu gedrängt, auf Gallants Forderung einzugehen: Die Gesetzgebung zur umstrittenen Justizreform sollte für wenigstens für einen Monat gestoppt werden.

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Und dazu kam es nun auch: Wie Polizeiminister Itamar Ben-Gvir am Montagabend bekannt gab, wird die Reform in Absprache mit Netanjahu bis nach der Pause des Parlaments Ende Juli verschoben. Im Gegenzug werde eine "Nationalgarde" unter der Führung des rechtsextremen Ministers eingerichtet. Was dies konkret bedeutet, war zunächst unklar. Medienberichten zufolge wollte sich Netanjahu noch im Laufe des Montags zu der umstrittenen Justizreform äußern.

Zuvor hatte die Hardliner in der Regierung mit Rücktritt gedroht, sollte Netanjahu dem Stopp der Gesetzgebung zustimmen. Der Ministerpräsident steckte in der Klemme: Massiver Druck gegen die Justizreform auf der einen Seite. Andererseits die Angst, dass die Koalition platzen könnte.

Dramatische Wende von Justizminister Jariv Levin

Diese Sorge hatte sich am Montag erledigt: Einige der Hardliner sagten Netanjahu auch weiter ihre Unterstützung zu, sollte die Justizreform vorerst auf Eis gelegt werden. Justizminister Jariv Levin, der bis Sonntag noch mit seinem Rücktritt gedroht hatte, sollte die Reform nicht über die Bühne gehen, legte am Montag eine dramatische Wende hin: In einem öffentlichen Statement versicherte er Netanjahu seinen Rückhalt. Dies gelte auch dann, wenn der Ministerpräsident den Stopp der Gesetzgebung verkünden würde. Im Laufe des Vormittags gab dann sogar der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotritsch grünes Licht für ein Aussetzen der Reform.

Hart blieb hingegen die rechtsradikale Partei Otzma Jehudit unter Itamar Ben Gvir, der das mächtige Ministerium für Nationale Sicherheit führt. Ben Gvir drohte, aus der Koalition auszuscheiden. Zugleich hielt er sich offen, die Regierung weiterhin von außen zu unterstützen, um Neuwahlen zu verhindern.

Rechtsextreme Aktivisten kündigen für Montagabend große Proteste angekündigt

Umfragen zufolge hätte das Anti-Netanjahu-Lager die Mehrheit, würde morgen gewählt werden. Darüber sind sich alle Koalitionsparteien im Klaren. Sie setzen daher alles daran, die Regierung weiter am Leben zu erhalten. Jede der fünf Regierungsparteien steht aber auch selbst unter dem Druck der eigenen Basis. Rechtsextreme Aktivisten, die sich zum Großteil Ben Gvirs und Smotritschs Parteien zugehörig fühlen, haben bereits angekündigt, auf der Straße weiter für die Gängelung der Justiz zu kämpfen. Sie haben für Montagabend große Proteste in Tel Aviv angekündigt – ausgerechnet auf der Kaplan-Straße, dem Zentrum der Anti-Regierungsproteste. Die Polizei warnte vor gewaltsamen Ausschreitungen.

Eigentlich hatte Netanjahu sich in den Morgenstunden des Montags an das Volk wenden wollen. Die Rede des Regierungschefs, die den Stopp der Justizreform einleiten sollte, wurde untertags aber immer wieder verschoben.

Austausch des Verteidigungsministers könnte zur Gefahr für Israel werden

Hinter den Regierungskulissen herrscht weiter heftiges Tauziehen. Netanjahu traf Ben Gvir zum Zwiegespräch, um ihn zu überreden, in der Koalition zu bleiben. In Netanjahus Likud-Partei hingegen mehren sich die Stimmen, die sich solidarisch mit Verteidigungsminister Gallant erklärten. Wie aus Likud-Kreisen zu hören war, ist der Druck auf Netanjahu groß, Gallants Absetzung wieder rückgängig zu machen. In angespannten Zeiten wie diesen sei es zu gefährlich, den Verteidigungsminister auszuwechseln, warnten sie. Sie berufen sich auf Geheimdienstberichte, aus denen hervorgehe, dass arabische Terrorgruppen Israels gegenwärtige militärische Schwäche ausnutzen wollten. Die Berichte über Hunderte Reservisten, die ihren Einsatzbefehl verweigern, gingen auch an den Terroristen nicht vorüber.

Offen bleibt die Frage, ob ein neuer Verteidigungsminister ernannt wird oder Gallant wieder ins Amt zurückkehrt. Da Gallants Absetzung ohnehin noch nicht formal festgeschrieben wurde, wäre es unkompliziert, sie wieder zu revidieren. Es bräuchte dafür nur eine öffentliche Erklärung seitens Netanjahus. Der 73-Jährige ist aber dafür bekannt, seinen Parteifreunden auch nur den kleinsten Anflug von Illoyalität nicht zu verzeihen. Ob er dieses Mal eine Ausnahme machen wird, bleibt abzuwarten.

Viel Zeit hat der Ministerpräsident nicht mehr. Am Freitag verabschiedet sich das Parlament in eine zweiwöchige Pause für die Pessach-Feierlichkeiten. Bis dahin muss geklärt werden, wie es mit der Regierung weitergeht. Der Druck der Straße dürfte nicht nachlassen.

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