Berlin. Beim Berlin-Besuch des israelischen Premiers Netanjahu spricht Kanzler Scholz die umstrittene Justizreform an – doch die Kritik verhallt.

Als Olaf Scholz und Benjamin Netanjahu am Donnerstag vor die Kameras traten, war das fast eine Stunde später als geplant. Offenbar gab es viel zu besprechen zwischen dem Bundeskanzler und dem israelischen Premierminister bei dessen jüngstem Berlin-Besuch.

Es war ein Treffen unter komplizierten Vorzeichen. Netanjahu kam als Ministerpräsident eines Staates, mit dem Deutschland nicht nur auf vielen Ebenen eng verbunden ist, sondern zu dem die Bundesrepublik schon aus historischer Verantwortung heraus immer ein besonderes Verhältnis haben wird.

Er kam aber auch als Chef einer rechts-religiösen Regierung, die derzeit mit aller Macht versucht eine Justizreform umzusetzen, die weithin bewertet wird als ein Versuch, die unabhängige richterliche Gewalt empfindlich zu schwächen. Sie soll dem israelischen Parlament ermöglichen, Entscheidungen des höchsten Gerichts aufzuheben. Kritiker warnen, das Land sei auf dem Weg in eine „theokratische Diktatur“.

Proteste gegen die Reform auch im Berliner Regierungsviertel

Vor dem Treffen war deshalb die Spannung groß, ob und mit welchen Worten der Bundeskanzler das Vorhaben ansprechen würde. Öffentliche Kritik an inneren Angelegenheiten eines anderen Staates gilt eigentlich als unziemlich. Doch die Warnungen vor einem dauerhaften Schaden für die israelische Demokratie sind eindringlich. In Berlin war der Besuch von Protesten im Regierungsviertel begleitet.

Als Scholz und Netanjahu am Nachmittag schließlich auftauchten vor den versammelten Journalisten, begannen die Stellungnahmen der beiden auf sicherem Grund. Scholz betonte, wie „eng, vielfältig, einzigartig“ die Beziehungen der beiden Länder seien, und auch die Verantwortung, die für Deutschland aus der Geschichte erwächst: „Die Sicherheit Israels ist für uns Staatsraison“, wiederholte der SPD-Politiker.

1Demonstranten protestierten vor dem Brandenburger Tor gegen die Politik in Israel anlässlich des Besuches des israelischen Ministerpräsidenten in Berlin.
1Demonstranten protestierten vor dem Brandenburger Tor gegen die Politik in Israel anlässlich des Besuches des israelischen Ministerpräsidenten in Berlin. © dpa | Carsten Koall

Einig war er sich zudem mit dem Gast aus Israel in der Beunruhigung über den Weg der iranischen Regierung hin zu Nuklearwaffen. Doch dann kam die Sprache auf die Justizreform – und Scholz wurde ungewöhnlich deutlich: Als „demokratische Wertepartner und enge Freunde Israels“ verfolge man diese Debatte sehr aufmerksam, sagte Scholz, „und das will ich nicht verhehlen: mit großer Sorge.“

Netanjahu weist Kritik an den Plänen zurück

„Unser Wunsch ist, dass unser Wertepartner Israel eine liberale Demokratie bleibt“, betonte Scholz. Er wünsche sich, dass über den jüngsten Kompromissvorschlag des israelischen Staatspräsidenten Izchak Herzog „das letzte Wort noch nicht gesprochen ist“, sagte der Bundeskanzler. Netanjahu wies die Kritik in Berlin zurück. „Israel ist eine liberale Demokratie und wird eine liberale Demokratie bleiben“, versicherte er. Israel habe eine unabhängige Justiz, aber viele seien der Meinung, dass sie zu mächtig sei. Die Reform sei schlicht ein Versuch, die Gewalten wieder in ein Gleichgewicht zu bringen.

Die Pläne der Regierung sind auch in Israel selbst hoch umstritten, seit Wochen gehen in dem Land Massen auf die Straße gegen die Reform. Netanjahus Landung in Berlin war begleitet vom Echo der „Rede an die Nation“, die Israels Staatspräsident Itzchak Herzog kurzfristig am Abend vorher gehalten hatte und wegen der Netanjahu später als geplant abgereist war.

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Der Staatspräsident hatte nicht mit starken Worten gespart. „Wer wirklich meint, dass ein Bürgerkrieg, der Menschenleben kostet, jenseits der Grenzen des Möglichen liegt, der hat keine Ahnung“, sagte Herzog, dessen Rede zur Primetime live ausgestrahlt wurde. Die Worte sollten die Koalition aufrütteln. Herzog appellierte nicht nur an die Vernunft der Politiker. Er legte auch einen Kompromissvorschlag vor, der beiden Seiten – Koalition und Opposition – die Chance gibt, ihr Gesicht zu wahren. Der Vorschlag, auf den auch Scholz sich am Donnerstag bezog, war von einem Expertengremium im Auftrag des Präsidenten erstellt worden.

Experte sieht Herzog-Vorschlag als „einzig mögliches Szenario“

Yochanan Plesner, der für das Israelische Demokratieinstitut Teil dieses Expertenforums war, sieht den Kompromiss als „einzig mögliches Szenario, wenn die beiden Seiten aufeinander zugehen wollen.“ Der Plan sei der kleinste gemeinsame Nenner. „Darunter geht es nicht, ohne dass Israels demokratisches System tatsächlich aus den Fugen gerät“, sagt Plesner.

Genau diese Perspektive scheint die Koalition aber nicht abzuschrecken. Sie hat den Kompromiss des Präsidenten noch am selben Abend abgelehnt. „Durch die zentralen Punkte dieses Vorschlags wird der Status Quo nur zementiert“, sagte Netanjahu. Hinter den Kulissen soll Netanjahu aber seine Koalitionspartner aufgerufen haben, über den Kompromissvorschlag wenigstens zu diskutieren. Dabei stieß er auf den Widerstand der rechtsextremen Parteien, aber auch aus seinen eigenen Reihen: Justizminister Jariv Levin, der als einer der Architekten der Reform gilt, bleibt auch weiterhin hart.

Netanjahu reiste also mit leeren Händen nach Berlin. Bei der Pressekonferenz mit Scholz gab es keine Signale der Bewegung – Herzogs Vorstoß nannte Netanjahu am Donnerstag „unausgewogen“. Wie es nun weitergeht? „Die Straßenproteste werden zunehmen“, glaubt Politikexperte Yochanan Plesner vom Israelischen Demokratieinstitut. Sie könnten auch in Gewalt umschlagen.

Einen Vorgeschmack darauf sah man bereits am Donnerstag. In ganz Israel wurde erneut zum Protest gegen die Justizreform aufgerufen. An mehreren Orten wurden die Demonstranten von rechten Aktivisten attackiert. In Tel Aviv griff eine Gruppe von Jugendlichen die Protestierenden mit Pfefferspray an, unweit von Tel Aviv raste ein Autofahrer auf eine Gruppe von Demonstranten zu, bremste ab und attackierte die Aktivisten. Der Fahrer wurde festgenommen.