Kiew. Rund 11.000 ukrainische Kinder sollen nach Russland verschleppt worden sein – um dort umerzogen zu werden. Nur wenige kehren zurück.

Sollte sich Russlands Präsident Wladimir Putin jemals vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag verantworten müssen, wird es in der Hauptsache nicht um den Angriffskrieg gegen die Ukraine gehen – sondern um rund 11.000 Kinder, die nach ukrainischen Angaben seit Beginn der Invasion gezielt nach Russland entführt, zur Adoption freigegeben und umerzogen wurden.

Im internationalen Strafrecht gilt das als Kriegsverbrechen. Und es ist ein Indiz dafür, dass es Putin tatsächlich um die Vernichtung der ukrainischen Kultur geht, um den Genozid am Volk.

„Es geht nicht nur um Zwangsdeportationen, sondern auch um illegale Adoptionen und den Diebstahl von Kindern“, sagt die Aktivistin Olha Reshetylova, die für die „Medieninitiative für Menschenrechte“ arbeitet. Besonders betroffen seien Kinder aus Wohneinrichtungen – nicht nur Waisen, sondern auch Kinder, deren Eltern in der Ukraine oder in russischer Kriegsgefangenschaft leben.

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Sehr oft seien die Eltern bewusst getäuscht worden, indem ihre Kinder zu „Rehabilitations-Urlauben“ eingeladen wurden. Stimmten die Eltern dem Angebot zu, verschwanden die Kinder plötzlich. Nur bei einigen gelang es, sie wieder frei zu verhandeln. Noch gezielter ist das Vorgehen gegen Kinder, deren Eltern in der ukrainischen Armee dienen oder die in den von Russland annektierten Gebieten während einer der russischen Filtrationen ins Visier der Besatzer geraten sind.

Oft trifft es Kinder, die Kontakt zu ihren Eltern verloren haben.

Solche Filtrationen muss praktisch jeder über sich ergehen lassen, der sich dort frei bewegen will. Jede Person wird auf eine mögliche pro-ukrainische Haltung durchleuchtet: ihr Mobiltelefon, das Profil in sozialen Medien, sogar Körperöffnungen. Berichten zufolge wurden Minderjährige teils stundenlang verhört oder gefoltert, weil sie missliebige Bemerkungen in Chats gemacht hatten.

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Oft trifft es auch Kinder, die bereits vor der russischen Invasion in Pflegeeinrichtungen waren, oder die im Zuge von Kampfhandlungen den Kontakt zu ihren Eltern verloren haben. Olha Reshetylova erzählt, dass die Kinder in russische Heime oder Sanatorien gebracht wurden, wo sie ausschließlich Russisch sprechen durften und russisch-patriotisch indoktriniert wurden.

Was danach mit ihnen passiert, ist unklar. Bislang hat es nur ein einziger in Russland adoptierter Junge wieder nach Hause geschafft: Ein 16-Jähriger, der an ein Mobiltelefon kam und heimlich die ukrainischen Behörden kontaktierte.

ISW: „Ethnische Säuberung“ vor den Augen der Öffentlichkeit

Der jüngste Bericht einer unabhängigen Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtskommissariats widmet der Verschleppung von Kindern ein ganzes Kapitel. Demnach handele es sich in vielerlei Hinsicht um ein „Kriegsverbrechen“, die Befürchtung sei groß, dass diese entführten Kinder dauerhaft in Russland gehalten werden. Der Kreml hatte erst vor kurzem den rechtlichen Rahmen erweitert, um Adoptionen ukrainischer Kinder durch russische Familien und die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an diese Kinder zu erleichtern.

Die unabhängige Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtskommissariats kommt zu dem Schluss, dass die Deportationen von Kindern aus der Ukraine ein Kriegsverbrechen sind.
Die unabhängige Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtskommissariats kommt zu dem Schluss, dass die Deportationen von Kindern aus der Ukraine ein Kriegsverbrechen sind. © AFP | FABRICE COFFRINI

Auch das renommierte Institut für Kriegsstudien (ISW) in den USA sieht in Russlands Vorgehen Hinweise auf eine russische Entvölkerungskampagne, die gleichbedeutend sei mit einer „ethnischer Säuberung“ – und zwar vor den Augen der russischen Öffentlichkeit und mit der entsprechenden Rhetorik der russischen Staatspropaganda.

Unbelehrbare ukrainische Kinder müsse man im Fluss ertränken, sie lebendig verbrennen oder einfach erschießen, heißt es da.

„Aufruf zum Völkermord“: TV-Sprecher könnten vor Gericht landen

Nach russischer Lesart stellt sich das natürlich anders dar. Bei allen Menschen, die aus der Ukraine nach Russland gekommen seien, handele es sich um Kriegsflüchtlinge. Zwar hat Moskau tatsächlich humanitäre Korridore aus Kampfgebieten geöffnet, diese führten aber fast ausnahmslos auf russisch kontrolliertes Territorium.

Zugleich bemüht sich der Kreml nicht um Beschönigungen. So schilderte die Präsidialkommissarin für Kinderrechte, Maria Alekseyevna Lvova-Belova, im russischen TV, wie sehr sie sich darüber freue, dass die ukrainischen Kinder nicht mehr so widerspenstig seien und die russische statt die Hymne ihres Heimatlandes sängen.

Tschetscheniens Regionalmachthaber Ramzan Kadyrow erklärte, dass Kinder aus der Ukraine unter seiner Obhut eine „militärisch-patriotische Ausbildung“ erhielten. Und bei Putins Auftritt zum Jahrestag des Krieges ließ er sich von Kindern aus dem völlig zerstörten Mariupol feiern.

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Werden Kinder gewaltsam in eine andere Gruppe überführt, entspreche das durchaus einem Tatbestand der Völkermordkonvention, sagt die Völkerrechtlerin Astrid Reisinger-Coracini von der Universität Wien. Entscheidend bei der rechtlichen Bewertung sei aber die Frage, ob es sich um Vorsatz politischer Entscheidungsträger handele, eine geschützte – nationale, ethische oder religiöse – Gruppe zu zerstören. Einer politischen Entität oder kulturellen Gruppe die Existenzberechtigung abzusprechen, falle noch nicht automatisch in die Völkermordkonvention, so die Expertin.

Was schon jetzt als Straftatbestand vorliegen könnte, sei „der öffentliche Aufruf zum Völkermord“, sagt Reisinger-Coracini – und zwar genau dann, wenn im russischen Staatsfernsehen darüber diskutiert wird, auf welche Art man unbelehrbare ukrainische Kinder töten müsse. Auch TV-Sprecher, Moderatoren oder Interviewte können dafür belangt werden. Für die Frage, ob tatsächlich ein Völkermord vorliegt, sei aber letztlich relevant, „wie sehr die Zitate aus der staatlichen russischen Propaganda auch Entscheidungsgrundlage auf politischer Ebene sind.“