Kathmandu. In Nepal hat Menschenhandel Tradition. Das Schicksal, das die 21-jährige Sahil erleiden sollte, schockt selbst erfahrene Aktivisten.

Der Staub frisst sich durch die Kleidung, diese Mischung aus Sand, Abgasen und Rauch überzieht die Blätter der Salbäume am Straßenrand mit einer grauen Schicht und fließt am Horizont zusammen mit dem Dunst, der ohnehin wie eine Glocke über der Landschaft hängt. Ein Schlagbaum begrenzt das südliche Ende von Biratnagar, Nepals zweitgrößter Stadt nach Kathmandu.

An der Grenze zu Indien tummeln sich die Schmuggler, die Bettler, hier reisen Geschäftsleute hin und her, Menschen besuchen ihre Verwandten auf der anderen Seite, Trucks, Busse, Mopeds und Rikschas wirbeln noch mehr Staub auf. Wenn hier einer eine Maske trägt, dann zum Schutz der Atemwege.

An der Grenze im Dorf Bhirmnagar hat CoCon, Partnerorganisation von Plan International, einen Posten.
An der Grenze im Dorf Bhirmnagar hat CoCon, Partnerorganisation von Plan International, einen Posten. © Plan International/Annika Büssemeier

Mit flehenden Augen halten zwei kleine Mädchen ihre Hand auf. Sie sind barfuß und völlig zerlumpt. Klar, sie wollen Geld, wie so viele hier. Geld, das wird hier zwischen all dem Treiben im Staub klar, ist das, worum sich alles dreht – obwohl oder gerade weil in dieser Region, die eine der ärmsten der Welt ist, nur wenige Möglichkeiten gibt, es legal zu verdienen. Umso mehr blüht der illegale Handel, etwa mit Drogen. Und mit Menschen; vor allem mit Mädchen und jungen Frauen.

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Menschenhandel: Die Tricks der Vermittler

Wie schaffen es kriminelle indische Hintermänner, an ihre Opfer heranzukommen? Was sind die Tricks, wer spielt eine zwielichtige Rolle und warum sind Eltern und Töchter so oft im guten Glauben, das Richtige zu tun? Eine Reise in verschiedene Grenzregionen zeigt: Das System ist bis ins Detail ausgeklügelt und oft spielen Verwandte und Freunde eine zwielichtige Rolle.

So wie bei Sahil. Die 21-jährige lebt mit ihren Eltern und drei Geschwistern in einem Dorf zwischen den beiden Kleinstädten Shambhunath und Lahan, zwei Stunden Autofahrt von der Großstadt Biratnagar entfernt. Ihr Vater lebt, wie eigentlich alle Männer im Dorf, von Gelegenheitsjobs, die Frauen kümmern sich um die Kinder, das kleine Wohnhaus aus Stein und Bambus, die Ziegen, die Hühner, die Kuh.

Sahil hatte vor zweieinhalb Jahren die 12. Klasse abgeschlossen und sich am College in Lahan eingeschrieben, um Lehrerin zu werden. Weil es umständlich ist, vom Dorf in die Stadt zu kommen, zog sie mit einer Mitbewohnerin in ein Zimmer in Lahan.

Von Nepal nach Indien – für einen Ritualmord

Eine gute Perspektive in einer Region, wo die Menschen von ihrem Vieh leben und ein wenig Ackerbau. Nun sitzt sie im kleinen Versammlungsraum des Dorfes mit ihrer Mutter und ihrem Vater auf einer Strohmatte, um zu erzählen, wie sie mitten im Lockdown im Herbst 2020 durch eine aufmerksame Beobachterin an der Grenze vor einer grausamen Verschleppung, die mit ihrem Tod enden sollte, bewahrt wurde.

Sie spricht leise und stockend, es ist schwer, die Geschichte zusammenzubringen. Aber es wird klar: Die junge Frau ist schwer traumatisiert. Ihr Blick schweift immer wieder ab ins Leere, dann zupft sie Strohhalme aus der Matte oder wischt sich verstohlen die Tränen ab.

Tatsächlich ist ihre Geschichte kaum zu ertragen. Es war die Mutter ihrer Mitbewohnerin, die ihr vorschlug, zu einem Hindu-Festival nach Indien zu reisen. Es sollte dort eine neue Brücke eingeweiht werden und die Bewohner wünschten sich bestimmte Rituale, mit denen Unheil von der Brücke abgewendet werden sollte. Schwere Unfälle etwa oder gar der Einsturz.

Die Menschenhändler checkten die Körpermaße

Die Mutter der Mitbewohnerin untersuchte die Gliedmaßen von Sahil, notierte ihre Größe von Kopf bis Fuß und die Länge der Linien der Handinnenseite. Sahil ist groß und schlank, ihre mandelförmigen Augen stehen weit auseinander. Keine Frage: Die junge Frau fällt auf – obwohl sie weder Sari noch Armreifen trägt, wie fast alle Frauen im Dorf, sondern eine Sporthose und ein weites T-Shirt. Als ob sie ihre Schönheit verbergen will.

Offenbar sind es genau diese jungen Frauen, unberührt, mit vermeintlich perfektem Körper, nach denen Menschenhändler suchen, um sie für rituelle Morde zu verkaufen. Tatsächlich ist die Praxis trotz Verbots in Indien nach wie vor üblich. Laut der indischen Kriminalitätsbehörde NCRB, die Statistiken über Straftaten führt, kommt es immer noch zu Menschenopfern im ganzen Land. Zwischen 2014 und 2021 zählte die Behörde 103 rituelle Morde.

In der Grenzstadt Biratnager geht es turbulent zu.
In der Grenzstadt Biratnager geht es turbulent zu. © Plan International/Annika Büssemeier | Plan International/Annika Büssemeier

Auch Sahil war drauf und dran, in die Fänge der skrupellosen Menschenhändler zu geraten. Gelockt von den Versprechen der Mutter ihrer Mitbewohnerin – sie sollte 100.000 Rupien bekommen, etwa 1140 Euro, und ein besseres Karma erlangen – gab sie schließlich dem schmeichelnden Werben nach. Außerdem sollte ihre Mitbewohnerin auch mitreisen.

Es war wohl die Aussicht auf Geld, Lust, aus der Lockdown-Tristesse herauszukommen und Interesse an einem schönen Ort mit einer berühmten Zeremonie, was sie bewog, der Reise zuzustimmen. Was genau passieren sollte, blieb allerdings unklar. Sahil wusste nur, dass sie fünf bis zehn Minuten bei einer rituellen Handlung dabei sein sollte.

Am vereinbarten Treffpunkt waren noch zwei weitere Mädchen, unter ihnen die gleichaltrige Sarala, die ebenso auffallend groß ist wie Sahil. Vier junge Männer warteten auf sie mit ihren Motorrädern. Die Männer maßen noch mal die Körpergröße. Von der Mitbewohnerin war nichts zu sehen. Immer noch in gutem Glauben, das Richtige zu tun, stiegen die drei Mädchen auf die Motorräder, fuhren über Feldwege Stunde um Stunde. Am Abend kamen sie am Grenzübergang Bhantabari im Distrikt Sunsari an.

Die Grenze: Ein Schlagbaum, ein Kiosk und viel Verkehr

In dem direkt angrenzenden Dorf ist es für die Menschen selbstverständlich, ihr Gemüse jenseits des Schlagbaums zu verkaufen. Der Übergang ist offen, zwischen der nepalesischen und der indischen Seite gibt es einen Streifen Niemandsland. Neben dem Schlagbaum baumeln unter einem Kioskdach Süßigkeiten und Instantnudeln in bunten Papieren.

Sahil, Sarala und das dritte Mädchen passierten mit den jungen Männern den Schlagbaum. Doch auf der indischen Seite wurden sie von der Polizei aufgehalten und befragt. Als die indischen Polizisten von den Vermessungen hörten und dass die Mädchen zu einem Ritual gebracht werden sollten, war klar, dass es sich um einen geplanten Ritualmord handelte. Sie brachten die Gruppe zurück auf die nepalesische Seite, wo sie die dortige Polizei in Empfang nahm – und die örtliche Hilfsorganisation CoCon, die mit Plan zusammenarbeitet. Die Männer kamen unter Arrest, CoCon-Mitarbeiterin Balika Inaruba rief die Eltern an.

FUNKE-Autorin Birgitta Stauber im Gespräch mit Balika Inaruba. Die Mitarbeiterin der HIlfsorganisation CoCon beobachtet von ihrem Kiosk aus, wer die Grenze zu Indien in Sunsari passiert. Wen sie nicht kennt, denn befragt sie.
FUNKE-Autorin Birgitta Stauber im Gespräch mit Balika Inaruba. Die Mitarbeiterin der HIlfsorganisation CoCon beobachtet von ihrem Kiosk aus, wer die Grenze zu Indien in Sunsari passiert. Wen sie nicht kennt, denn befragt sie. © Plan International/Annika Büssemeier | Plan International/Annika Büssemeier

Die 32-Jährige bewacht jeden Tag den Grenzübergang, zehn Stunden lang von 8 Uhr bis 18 Uhr. Sie kennt die Bewohner des nepalesischen Dorfes ebenso wie die Menschen auf der indischen Seite.

Wenn sie eine Gruppe unbekannter junger Männer sieht, die Frauen dabeihaben, fragt sie: Wo wollt ihr hin? Wo kommt ihr her? Alleinreisende Mädchen oder Jungen, die zu einem vermeintlichen Job nach Indien wollen, fragt sie: Wo ist euer Arbeitsvertrag? Habt ihr eine Telefonnummer? Wie heißt euer Chef? Seid ihr euch sicher, dass es die Firma auch gibt?

Jeden, den sie nicht kennt, trägt sie in eine Liste ein, 10.000 Menschen hat sie schon registriert. „Und wenn ich den Verdacht habe, da sollen Menschen auf die andere Seite geschmuggelt werden, schalte ich die Polizei ein“, sagt sie.

Und dann schlägt Balika die flache Hand gegen den Hals

Sie habe schon viel erlebt, sagt Balika, aber der Fall von Sahil erschüttere sie noch heute. Wie die Mädchen getötet werden sollten? Die CoCon-Mitarbeiterin sagt, sie sollten auf dem Altar liegen. Dann schweigt sie und schlägt die Handkante gegen den Hals. Geköpft? Balika nickt. Und die Leichen, was sollte mit denen passieren? Sie sollten in den Fluss unter der Brücke geworfen werden.

300 Meter vom Schlagbaum entfernt wohnt Roshani (21) mit ihren Eltern, Großeltern, jüngeren Geschwistern und ihrem Ehemann. Sie geht aufs College, um Lehrerin zu werden, und unterrichtet an einer privaten Primarschule – wohl der einzige mögliche Werdegang von ambitionierten Frauen der Region, finanziell unabhängig zu sein. Vor einiger Zeit hörte sie, dass viele Mädchen und auch Jungen Opfer von Menschenhandel werden. „Ich konnte das nicht glauben“, sagt sie und streicht energisch ihre offenen langen Haare aus dem Gesicht.

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Wie alle hier im Dorf trägt sie Sari, dazu viele bunt-glitzernde Armreife und einen Nasenring. Mit anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen geht sie in Schulen, informiert auf Facebook, spielt in einem Theaterstück mit ihren Partnerinnen und Partnern vor, wie sich Vermittler Vertrauen erschleichen, wie meist weibliche Bekannte werben, wohin das Geld fließt und wie Träume von einem guten Job zerplatzen und sich die Opfer wiederfinden in einer Art moderner Sklaverei, Zwangs-Prostitution und Ausbeutung.

Es war die Großmutter, die für den angeblich guten Job warb

So wie Mila (16), die als Zwölfjährige in die Hände eines zwielichtigen Eventmanagers geriet. Sein Agent suchte im Dorf bei Biratnagar nach jungen Mädchen und Frauen und nahm Kontakt zur Großmutter von Mina auf. Das Mädchen könne als Babysitter arbeiten, ganz in der Nähe, sie könne weiter zur Schule gehen und ein Gehalt bekommen – für eine Familie, die von dem lebt, was der Vater, der auf Zuckerrohrfarmen als Tagelöhner arbeitet, mit nach Hause bringt, sind das verlockende Aussichten. Die Großmutter nahm den Vermittler mit zum Haus von Minas Familie und überzeugte die Mutter, dem Deal zuzustimmen. Als sie hörte, Mina dürfe Kontakt mit der Familie halten und sei ganz in der Nähe untergebracht, stimmte sie zu.

Mina, 16 Jahre alt, mit ihrer Mutter. Als Zwölfjährige war sie nach Indien verschleppt worden. Neun Monate lang arbeitete sie als Kindermädchen und Tänzerin, dann konnte ihre Mutter sie befreien.
Mina, 16 Jahre alt, mit ihrer Mutter. Als Zwölfjährige war sie nach Indien verschleppt worden. Neun Monate lang arbeitete sie als Kindermädchen und Tänzerin, dann konnte ihre Mutter sie befreien. © Plan International/Annika Büssemeier | Plan International/Annika Büssemeier

Doch Mina und drei weitere ältere Mädchen landeten nach einer Reise im Bus, Pferdekarren, Zug und zu Fuß nach zwei Tagen in Indien im Haus des Managers, der Tanzshows organisierte. Die älteren Mädchen wurden gezwungen, zu tanzen, Männer zu umschwirren, sie zum Geld ausgeben zu animieren. Alkohol floss in Strömen, auch die Mädchen mussten trinken. Die zwölfjährige Mina hütete zunächst nur die vier Kinder, putzte und kochte für die Familie.

Mila wurde als Zwölfjährige verschleppt

Wo sie war, was mit ihr passierte – sie hatte keine Ahnung. Mit der Zeit begriff sie, dass sie entführt wurde. „Ich hatte furchtbare Angst“, erzählt die heute 16-jährige. „Ich wusste lange Zeit gar nicht, dass ich in Indien bin. Ich fühlte mich die ganze Zeit schlecht. Gelegenheit zu fliehen hatte ich nicht“.

Und dann sollte sie auch noch tanzen. Als sie sich weigerte, wurde sie geschlagen. „Die Familie, wo ich war, hatte ein Tanzunternehmen“, sagt Mina nun. Das ist freundlich ausgedrückt für das, was sich tatsächlich abspielte.

Je mehr Mina stockend erzählt, wie ihr Alltag war, desto klarer wird: Es muss sich um eine Art Bordell gehandelt haben. Männer wurden in die Zimmer der anderen Mädchen gelassen, Männer warfen Geld auf die tanzenden Mädchen, Geld, das natürlich abgeliefert werden musste.

Die Männer kamen aufs Zimmer

Im Laufe des Gesprächs wird deutlich: Auch Mina, die Zwölfjährige, tanzte. Ob zu ihr Männer ins Zimmer kamen? Mina wickelt ihren großen weißen Schal, der mit glitzernden Fädchen bestickt ist, um ihren Körper, blickt auf den Boden und schüttelt den Kopf. „Sie war zu jung“, erklärt eine Mitarbeiterin von Plan International, die das Gespräch ins Englische übersetzt. Ob Mina tatsächlich vom Kindesmissbrauch verschont wurde, ist nur zu hoffen.

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Auch die Eltern hatten keine Ahnung, wo Mina war. Sie stellten die Großmutter zur Rede, die schaltete den Vermittler ein und bekam schließlich heraus, dass die Enkeltochter in Indien war. Es gab mehrere Reisen der Großeltern und der Mutter zum Haus des „Unternehmers“, immer mit Bus, Kutsche, Zug und zu Fuß. Die Mutter stellte den Veranstalter zur Rede, wollte die Tochter mitnehmen, doch der verlangte, dann müsse die Mutter – sie ist mit ihren 34 Jahren selbst noch eine junge Frau – dableiben und anstelle der Tochter tanzen. „Er sagte, er habe noch 35 Tanzshows vereinbart“.

Nach zähen Verhandlungen und Drohungen mit der Polizei erklärte sich der Hausherr schließlich bereit, Mina gehen zu lassen, wenn die Mutter innerhalb der nächsten Wochen ihm weitere zehn Mädchen besorge. Die Mutter stimmte zu, das Kind kam nach neun Monaten frei.

Der Bordellbesitzer wollte zehn weitere Mädchen

Als drei Agenten des indischen Unternehmers und offensichtlichen Bordellbesitzers den Deal einforderten, ging die Mutter zur Polizei und erzählte dort auch, dass drei weitere Mädchen in dem Haus gefangen seien. Der Vermittler wurde zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt.

Woher der Mut der Mutter kommt? Ob sie keine Angst hatte vor den Menschenschmugglern? Sie habe ihre Tochter zurückhaben wollen, sagt sie. „Viele Leute sagen nicht, was passiert ist, sie verstecken sich. Ich will das nicht“. Ihr geht es auch um den Schutz der anderen.

Balika Inaruba hält eine Frau an, die mit ihren drei kleinen Kindern per Rikscha nach Indien reisen will. Wo will sie hin? Was macht sie dort? Die junge Frau will zu Verwandten. Balika lässt sie passieren.
Balika Inaruba hält eine Frau an, die mit ihren drei kleinen Kindern per Rikscha nach Indien reisen will. Wo will sie hin? Was macht sie dort? Die junge Frau will zu Verwandten. Balika lässt sie passieren. © Plan International/Annika Büssemeier

Wie bei Sahil, die geopfert werden sollte, ist auch bei Mina unklar, wie viel die Vertrauensperson von den tatsächlichen Absichten wusste oder ob sie mehr oder weniger naiv für den „Job“ warben. Roshani gibt darauf ebenso wenig eine klare Antwort wie die NGO-Mitarbeiterin Balika Inaruba. Klar ist nur: Es fließt Geld. Umgerechnet an die 1000 Euro für die Agenten, 500 für Vermittlerinnen und Vermittler und sonstige Helfer, wie die Motorradjungs, die ihre Opfer zu dem tödlichen Ritual fahren wollten.

Die Auftraggeber sitzen in Indien. Auch Minas Großmutter wurden 5000 Rupien – 35 Euro – versprochen. Roshani, die junge Aktivistin, zeigt mit zwei Freunden in einem kleinen Sketch, wie wichtig die Rolle der Vertrauensperson ist. Wie sie umschmeichelt, Druck macht, verspricht. Wie die böse Hexe im Märchen Hänsel und Gretel. Nur dass es kein Märchen ist.

Die NGO’s können den Großteil der Opfer nicht erreichen

So schwer traumatisiert Mina und Sahil sind: Dass sie überhaupt zurückkommen konnten zu ihrer Familie, ist nicht selbstverständlich. Zu verdanken ist das ihren energischen und mutigen Müttern und auch der Unterstützung von Hilfsorganisationen wie Plan International und deren lokalen Partnern. Doch so hart die NGOs arbeiten: Den Großteil der Opfer können sie nicht erreichen – dafür ist die Grenze mit ihren mehr als 1000 offenen Übergängen viel zu unübersichtlich.

Jugendgruppen wie die von Roshani und ihren Freunden spielen daher eine wichtige Rolle: Sie informieren über Facebook und Instagram – auch in den entlegensten Gebieten hat fast jeder ein Smartphone, sie haben einen Chatbot eingerichtet, sie gehen in die Dörfer.

Viele Mitglieder der Gruppe wissen, wie subtil die Anwerbephase verläuft, so wie die 17-jährige Niwa, der ein Facebook-Freund einen tollen Job in Indien versprach. Oder Noor, dem ein lukrativer Job in einem großen schönen Haus in Indien angeboten wurde. Ihr Bauchgefühl half ihnen, im letzten Moment abzuspringen. Nun wollen sie aufklären – auch über die Rolle der Vermittler, die mit Geld Freunde und Verwandte als Vertrauenspersonen anwerben. „Hinter jeder Verschleppung steht ein mächtiger Mann“, sagt Roshani. „Aber ohne Vertrauensperson läuft nichts.“

1700 Kilometer Grenze zwischen Indien und Nepal – die Infos

Der Menschenhandel hat in Nepal und anderen asiatischen Ländern eine lange historische Tradition. Allein im Jahr 2018 verschwanden nach einer Erhebung der nepalesischen Menschenrechtskommission 35.000 Menschen, die Dunkelziffer wird doppelt so hoch geschätzt.

Vor allem Frauen und Mädchen werden nach Indien und in andere Länder im asiatischen Pazifikraum verschleppt. Aber auch im mittleren Osten, Europa und Amerika landen die Opfer. Ihnen drohen sexuelle Ausbeutung, Zwangsehen, Zwangsarbeit, Animier-Jobs. Es geht um illegale Adoptionen und auch Organhandel sowie – seltener – um Menschenopfer bei rituellen Handlungen.

Vor allem zwischen Indien und Nepal ist die Lage unübersichtlich. Die offene Grenze ist mehr als 1700 Kilometer lang und hat über 1000 Übergänge. Sie zieht sich vom gesamten Süden in der nepalesischen Ebene bis zur zur Himalaya-Region.