Berlin. Am 31.12. hätte Schluss sein sollen, doch der Atomausstieg wurde noch einmal vertagt. Wie es dazu kam – in den Worten der Beteiligten.

Als zum 31. Dezember 2021 die Atomkraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen vom Netz gingen, wähnten Atomkraft-Gegner in Deutschland sich auf der Zielgeraden: Nur noch drei Meiler sollten bis Ende 2022 laufen, bevor auch sie abgeschaltet würden. Die Frage nach der Zukunft von Atomkraft in Deutschland, sie schien entschieden.

Dann kam der Krieg in der Ukraine – und plötzlich stand hinter dem Ausstieg wieder ein Fragezeichen. Bis zum 15. April 2023 sollen die verbliebenen deutschen Akw jetzt doch noch laufen. Wie es dazu kam: Eine Chronik in ausgewählten Zitaten.

2021

20.12.2021: „Der Atomausstieg ist unumkehrbar.“ (Bundesumweltministerin Steffi Lemke, Grüne)

28.12.2021 „Das Kapitel Kernenergie ist für RWE abgeschlossen.“ (RWE-Sprecher)

2022

24.02. Russland überfällt die Ukraine.

27.02. „Für den Winter 2022/23 würde uns die Atomkraft nicht helfen.“ (Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, Grüne, über eine mögliche Laufzeitverlängerung.)

März

05.03. „Bei der Kernenergie glaube ich persönlich, dass erst unsere Enkel diese Technologie für Deutschland neu prüfen werden.“ (Bundesfinanzminister Christian Lindner, FDP)

07.03. Umwelt- und Wirtschaftsministerium legen einen Prüfvermerk vor, der zu dem Schluss kommt, dass ein Weiterbetrieb keine zusätzlichen Strommengen für den Winter bringen würde.

08.03. „Am Ende ist es an der Politik, über eine mögliche Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke zu entscheiden. Die genehmigungsrechtlichen und technischen Hürden für eine Verlängerung wären allerdings sehr hoch.“ (Sprecherin von PreussenElektra)

25.03. „Die noch aktiven Kernkraftwerke müssen länger am Netz bleiben sowie die drei stillgelegten wieder reaktiviert werden.“ (Vize-FDP-Chef Wolfgang Kubicki)

April

06.04. „Kein guter Plan“ (Bundeskanzler Olaf Scholz, SPD, im Bundestag über die Frage von längeren Laufzeiten)

09.04. „Die Frage der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke haben wir beantwortet.“ (Lemke)

Juni

09.06. „Deutschland darf sich einer Debatte nicht verschließen, die überall auf der Welt geführt wird. Ich rate dazu, die Argumente vorurteilsfrei auf den Tisch zu legen.“ (Lindner)

„Ideologiefrei fachlich wurde das Thema Anfang der Legislatur nochmal durchgeprüft. Das ist aus den Fachministerien heraus entschieden - und politisch auch. Das ist kein Weg, den Deutschland weiter gehen wird.“ (Habeck)

22.06. „Es ist dringend an der Zeit, den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke für mindestens fünf Jahre zu gewährleisten.“ (Kubicki)

Juli

12.07. „Liebe Grüne, springt über Euren Schatten. Keine Denkverbote. Tut es für Deutschland.“ (CDU-Chef Friedrich Merz)

16.07. „Fakt ist: Wir haben aktuell ein Gasproblem, kein Stromproblem. Dieses ‚Wir lassen die mal weiterlaufen, dann wird schon alles gut‘ steht weder im Verhältnis zu den Abstrichen bei den Sicherheitsstandards, die wir dafür in Kauf nehmen müssten, noch ist es der Situation angemessen.“ (Habeck)

18.07. Das Bundeswirtschaftsministerium kündigt eine zweite Prüfung an.

„Wir rechnen jetzt noch mal und entscheiden dann auf der Basis von klaren Fakten.“ (Sprecherin des Bundeswirtschaftsministeriums)

26.07. „Es geht nicht um viele Jahre, aber möglicherweise müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, auch im Jahr 2024 etwa noch Kernenergie zu brauchen.“ (Lindner)

August

22.08. „Das Gerede über den Wiedereinstieg, über Atomkraft als angebliche Zukunftstechnologie, ist eine Märchendebatte.“ (Grünen-Parteichef Omid Nouripour)

September

05.09. Das Wirtschaftsministerium veröffentlicht die Ergebnisse der zweiten Prüfung.

„Die beiden AKW Isar 2 und Neckarwestheim sollen bis Mitte April 2023 noch zur Verfügung stehen, um falls nötig, über den Winter einen zusätzlichen Beitrag im Stromnetz in Süddeutschland 2022/23 leisten zu können.“ (Habeck)

„Die FDP bleibt dran: Für den Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke!“ (Vize-FDP-Chef Johannes Vogel)

06.09. „Grundsätzlich bleibt es beim Ausstieg aus der Atomenergie. […] Für diesen Winter ermöglichen wir aber, dass die beiden Kernkraftwerke in Süddeutschland, Neckarwestheim 2 und Isar 2, bis ins nächste Jahr hinein noch einige Monate laufen können, damit wir auf jeden Fall ausreichend Strom zur Verfügung haben.“ (Scholz)

27.09. „Wenn diese Entwicklung nicht noch in ihr Gegenteil verkehrt wird, werden wir Isar 2 und Neckarwestheim im ersten Quartal 2023 am Netz lassen.“ (Habeck über die Situation der franz. Akw)

Oktober

5.10. Ein geplanter Kabinettsbeschluss für den Weiterbetrieb fällt aus, weil es innerhalb der Regierung keine Einigkeit gibt.

„Für mich ist es nicht ausreichend, wenn nur zwei Kraftwerke bis Frühjahr 2023 am Netz bleiben.“ (Lindner)

9.10. Landtagswahl in Niedersachsen. SPD und Grüne haben gemeinsam eine Mehrheit, die FDP scheitert an der 5-Prozent-Hürde.

10.10. „Aufgrund politischer Unstimmigkeiten wurde […] von dieser Verständigung abgerückt.“ (Das Wirtschaftsministerium über einen erneut nicht zustande gekommenen Kabinettsbeschluss)

11.10. Ein Krisengespräch zwischen Scholz, Habeck und Lindner bleibt ohne Einigung.

12.10. „Die Energiekrise endet nicht auf unseren Wunsch im April 2023. […] Deshalb brauchen wir übergangsweise eine Laufzeitverlängerung der drei sicheren deutschen Kernkraftwerke bis ins Jahr 2024.“ (FDP-Generalsekretär Dijan Bjir-Sarai)

„Wir werden sicher keine neuen Brennstäbe und damit neuen Atommüll bestellen.“ (Nouripour)

„Wir sind zuversichtlich.“ (Stellv. Regierungssprecherin Christiane Hoffmann über eine Einigung)

14.10. Der Grünen-Parteitag in Bonn beginnt. Die Partei stimmt für den Reservebetrieb von zwei Akw, das dritte, Emsland, soll vom Netz gehen.

„Neue Brennstäbe sind die rote Linie.“ (Grünen-Parteichefin Ricarda Lang)

„Wenn es darum geht, Schaden von unserem Land abzuwenden, die ruinös hohen Energiepreise zu reduzieren, Blackouts zu verhindern -- dann gibt es für mich keine roten Linien.“ (Lindner)

16.10. Scholz trifft erneut Habeck und Lindner. Über die Inhalte des Gesprächs wird Stillschweigen vereinbart.

17.10. Der Bundeskanzler nutzt seine Richtlinienkompetenz.

„Es wird die gesetzliche Grundlage geschaffen, um den Leistungsbetrieb der Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland über den 31.12.2022 hinaus bis längstens zum 15.04.2023 zu ermöglichen.“ (Scholz in einem Schreiben an Habeck, Lemke und Lindner)

19.10. Das Kabinett billigt den Weiterbetrieb bis zum 15. April 2023.

November

11.11. Der Bundestag beschließt den Weiterbetrieb bis zum 15. April 2023.

17.11. „Die Atomdebatte ist aus meiner Sicht für diese Koalition mit der Ansage von Olaf Scholz erledigt. Wenn man die Autorität des Kanzlers nicht beschädigen will, hält man sich auch an das, was entschieden wurde.“ (Habeck)

22.12. „Würden unsere Kernkraftwerke über das Frühjahr hinaus laufen, wären wir in einer anderen Lage. Wir können den Menschen nicht zumuten, für viel Geld auf Elektromobilität umzusteigen, solange der Staat sie mit Kohlestrom versorgt.“ (Bundesverkehrsminister Volker Wissing, FDP)