Berlin. Der ukrainische Ex-Präsident Petro Poroschenko fordert weitere Waffenlieferungen. Er rät Kanzler Scholz, sich an Merkel zu orientieren.

Als Petro Poroschenko am Sonntagmorgen mit dem Zug in Kiew aufbrach, sah er, wie russische Raketen in der Stadt einschlugen. Jetzt ist der frühere ukrainische Präsident in Berlin, um politische Gespräche zu führen. Was er von der Bundesregierung erwartet, sagt Poroschenko beim Besuch in unserer Redaktion.

Putins Vernichtungskrieg ist in den fünften Monat gegangen. Wird es Zeit für Verhandlungen?

Petro Poroschenko: Dieser verheerende Krieg dauert schon acht Jahre. Ich bin sehr stolz, was wir in dieser Zeit erreicht haben. Wir haben zwei Drittel des Donbass befreit, der 2014 von Russland besetzt wurde - und ich bin sehr optimistisch, dass wir die territoriale Integrität der Ukraine wieder vollständig herstellen können.

Also keine Verhandlungen?

Poroschenko: Keine Nation der Welt will Frieden mehr als die Ukraine. Wir zahlen an jedem einzelnen Tag einen enormen Preis mit Hunderten toten Soldaten, die wirklich heldenhaft kämpfen. Daher sollten Verhandlungen nicht unnötig hinausgezögert werden. Allerdings sehe ich erhebliche Probleme. Putin will uns umbringen – und wir wollen leben. Wie will man da einen Kompromiss finden? Putin will die Ukraine von der Weltkarte tilgen – und wir wollen unser Land mit seiner tausendjährigen Geschichte erhalten. Ich habe als Präsident der Ukraine reichlich Verhandlungserfahrung mit Putin gesammelt und möchte allen, die jetzt verhandeln wollen, zwei Ratschläge geben …

… die wären?

Poroschenko: Erstens: Vertraut niemals Putin! Alles, was er verspricht, passiert nicht. Putin versteht nur die Sprache der Stärke. Er geht immer so weit, wie man ihn gehen lässt. Und die zweite Empfehlung: Habt keine Angst vor Putin! Wer sich mit Angst an den Verhandlungstisch setzt, wird verlieren. Ohnehin muss eines klar sein: Die territoriale Integrität der Ukraine kann niemals Gegenstand von Verhandlungen sein. Schweden würde niemals Gotland preisgeben, und die USA nicht Alaska. Warum sollten wir auf den Donbass oder die Krim verzichten?

Sie wollen kämpfen, bis der letzte russische Soldat von ukrainischem Territorium verschwunden ist.

Poroschenko: Das Schicksal der russischen Soldaten ist mir gleich. Sie sind Barbaren, die Massaker in der Ukraine verüben. Im Fernsehen sieht das aus wie ein Horrorfilm aus Hollywood, aber das wahre Ausmaß erkennt man erst aus der Nähe. Als unsere Minenräumer nach Butscha gekommen sind, haben sie all die Leichen auf den Straßen gefunden - mit gefesselten Händen und Kugeln im Kopf. Frauen wurden vergewaltigt und umgebracht. Wenn man das gesehen hat, kann man nicht mehr schlafen. Wir wollen nur eines: Dass die russischen Soldaten aus der Ukraine verschwinden.

Präsident Selenskyj ist enttäuscht von der deutschen Unterstützung. Sind Sie das auch?

Poroschenko: Erst einmal möchte mich bei jedem einzelnen Deutschen für die Unterstützung seit 2014 bedanken. Die Ukraine ist sehr interessiert an einer deutschen Führungsrolle – wie sie Kanzlerin Merkel seinerzeit gezeigt hat. Gerade ich weiß, wie wichtig und effektiv das war. Angela Merkel hat mit Putin hart gesprochen, trotz ihrer sanften Stimme. Wenige sind in der Lage, mit Putin zu sprechen, wie die Kanzlerin das konnte.

Sie vermissen Merkel.

Petro Poroschenko, früherer Präsident der Ukraine und Vorgänger von Selenskyj, sagt: „Wir sind alle Soldaten“.
Petro Poroschenko, früherer Präsident der Ukraine und Vorgänger von Selenskyj, sagt: „Wir sind alle Soldaten“. © Reto Klar | FFS

Poroschenko: Ich schätze sehr die wirtschaftliche Unterstützung, die Deutschland jetzt auch mit Kanzler Scholz leistet. Aber wenn man sich im Krieg befindet, kann man nie genug Waffen bekommen. Daher bin ich mit den Waffenlieferungen aus Deutschland auch nicht zufrieden. Positiv ist Unterstützung für den Beitritt der Ukraine zur EU – auch der Kandidatenstatus ist eine Waffe. Und ich bin sehr dankbar, dass Deutschland die Zusage gegeben hat, Panzerhaubitzen zu liefern. Die Panzerhaubitze 2000 ist eine der besten in der Welt.

Was steht noch auf Ihrer Wunschliste?

Poroschenko: Es geht nicht nur um die Zukunft der Ukraine, sondern auch um die Zukunft Deutschlands, Europas und der Welt. Und diese Zukunft hängt an der Lieferung von 500 Panzern, 1000 Artilleriesystemen, 100 Kampfflugzeugen und 300 Flugabwehrraketen. Wer diese Waffen liefert, hilft nicht der Ukraine, sondern investiert in seine eigene Sicherheit. Es wird auch Zeit, sämtliche Exporte aus Russland zu blockieren – und die finanzielle Unterstützung für Parteien und andere Organisationen in Russland einzustellen. Russland erhält 500 Milliarden Dollar im Jahr, um den Krieg gegen die Ukraine zu finanzieren. Ich sage: Schluss damit! Als fünfter Präsident der Ukraine und als Oppositionsführer appelliere ich an Deutschland: Bitte helft uns dabei, euch zu retten. Krieg auf ukrainischem Territorium ist für euch besser, als wenn der Krieg nach Deutschland kommt.

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Was sagen Sie jenen, die eine atomare Eskalation fürchten, wenn immer mehr Waffen geliefert werden?

Poroschenko: Das ist genau das, was Putin glauben machen will. Ich dann nur davor warnen, diese irrsinnige Botschaft zu verstärken. Je mehr Waffen in die Ukraine geliefert werden, desto kürzer ist der Weg zum Frieden. Wir können Putin stoppen – wenn wir genügend Waffen haben. Es geht darum, Europa von Putin zu befreien. Die einzige Organisation, die Sicherheit in Europa garantieren kann, ist die Nato.

Glauben Sie noch, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird?

Poroschenko: Wir fragen Russland nicht um Erlaubnis, welcher Organisation wir beitreten. Ich habe als Präsident in unsere Verfassung schreiben lassen, dass das Ziel unserer Außenpolitik der Beitritt sowohl zur EU als auch zur Nato ist. 85 Prozent der Ukrainer sind heute für den Beitritt zur EU, sogar 90 Prozent für eine Nato-Mitgliedschaft. Von einer Aufnahme der Ukraine in die Nato werden beide Seiten gleichermaßen profitieren. Wir kommen nicht mit leeren Händen. Die ukrainische Armee ist eine der stärksten in Europa. Die Nato wird mit der Ukraine viel schlagkräftiger sein als ohne die Ukraine. Wir brauchen noch in diesem Jahr einen Aktionsplan für die Aufnahme der Ukraine in die Nato.

Wenn Sie noch Präsident wären - was würden Sie anders machen als Selenskyj?

Poroschenko: Seit dem 24. Februar unterscheiden wir nicht mehr zwischen Regierung und Opposition. Wir sind alle Soldaten. Ich bin zu Selenskyj gegangen und habe ihm gesagt: Jetzt haben wir einen gemeinsamen Feind, sein Name ist Putin. Wir müssen Einheit demonstrieren. Ich tue mein Bestes, um die Ukraine zu stärken. Ich habe viele Ratschläge für Selenskyj, aber die gebe ich nicht öffentlich.

Sondern?

Poroschenko: Ich schreibe Selenskyi vertrauliche Briefe. Und dann kann er entscheiden, ob er meinen Rat beherzigt oder nicht.

Antwortet er Ihnen?

Poroschenko: Er antwortet durch sein Handeln – manchmal in meinem Sinne, manchmal nicht.

Herr Poroschenko, Sie müssen sich vor Gericht verantworten, der Vorwurf lautet Hochverrat. Wie werden Sie sich verteidigen?

Poroschenko: Es sind schon mehr als 150 Gerichtsverfahren gegen mich angestrengt worden - ein Vorwurf ist absurder als der andere. Selbst ein Telefonat mit US-Präsident Biden wird wegen Hochverrats verfolgt. Wir haben Hinweise, auch von amerikanischer Seite, dass dahinter russische Agenten stecken. Ich werde das nicht akzeptieren. Genauso wenig nehme ich hin, dass Fernsehsender der Opposition geschlossen werden. Wir dürfen kein Putin-System in der Ukraine aufbauen.

Die Gleichschaltung der Fernsehnachrichten hat jedenfalls mehr mit Selenskyj als mit russischen Agenten zu tun.

Poroschenko: Ich hoffe nicht, dass Selenskyj das persönlich betreibt. Wenn man nur noch einen Fernsehsender hat, ist man bei Orwell. Wir haben das gemeinsame Interesse, die Demokratie in der Ukraine zu verteidigen. Über alles, was schlecht gelaufen ist, sprechen wir nach dem Krieg.

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt