Kramatorsk/Berlin. Der Angriff auf Flüchtlinge im Bahnhof von Kramatorsk war eine Botschaft: Sie kündigt eine russische Ost-Offensive an – noch brutaler.

Leblose Körper, Blutlachen, verstreutes Gepäck: Es sind grausame Bilder von Tod und Verwüstung im Bahnhof von Kramatorsk, einer Stadt in der Ostukraine. Am Vorplatz liegen mit Tüchern abgedeckte Leichen. Mehrere geparkte Autos sind ausgebrannt.

Mindestens 50 Menschen seien bei einem Raketeneinschlag am Freitag getötet und Dutzende verletzt worden, melden die ukrainischen Behörden. Auf Videos und Fotos sind Tote neben zurückgelassenen Koffern und Taschen sowie einem Kinderwagen zu sehen.

Der Angriff kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Denn der Bahnhof von Kramatorsk ist für viele ein Ort der Hoffnung, ein Drehkreuz für die Reise in mehr Sicherheit im Westen. Etwa 4000 Menschen hätten sich am Bahnhof aufgehalten, sagt Bürgermeister Olexander Hontscharenko.

Angriff in Kramatorsk: Putins "Botschaft"

Die Behörden hatten angesichts einer erwarteten russischen Offensive im Osten des Landes die Bevölkerung der Gebiete Donezk und Luhansk zur Flucht aufgerufen. Kramatorsk liegt in der Region Donezk, die von ukrainischen Truppen kontrolliert wird, sie gilt aber als Ziel der Russen.

Laut dem ukrainischen Eisenbahnchef Olexander Kamischyn sind zwei Raketen eingeschlagen. Im Nachrichtendienst Telegram kursiert ein Video, das den Abschuss der Raketen aus der Nähe von Schachtarsk zeigen soll. Die Stadt liegt in dem von prorussischen Separatisten kontrollierten Territorium des Gebiets Donezk.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi macht Russland für den Angriff auf den Bahnhof in Kramatorsk verantwortlich. Der Kreml weist die Vowürfe zurück.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi macht Russland für den Angriff auf den Bahnhof in Kramatorsk verantwortlich. Der Kreml weist die Vowürfe zurück.

Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj gab Russland die Schuld: „Da ihnen die Kraft und der Mut fehlen, sich auf dem Schlachtfeld gegen uns zu behaupten, zerstören sie zynisch die Zivilbevölkerung“.

Angriff war Auftakt für einen Sturm auf die Ost-Ukraine

Der Kreml erklärte dagegen: „Es gab keine Kampfeinsätze in Kramatorsk, und es waren heute auch keine geplant.“ Die moskautreuen Separatisten, die Anspruch auf das gesamte Verwaltungsgebiet Donezk erheben, geben ukrainischen „Nationalisten“ die Schuld.

Was in Kramatorsk passierte, könnte der Auftakt für einen gewaltigen Sturm russischer Truppen auf die Ostukraine und den Süden sein. Was den Russen bei Letzterem noch fehlt, ist die strategisch wichtige Stadt Mariupol am Asowschen Meer.

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Die ursprünglich knapp 500.000 Bewohner zählende Stadt steht seit Wochen unter dem Dauer-Bombardement der Russen und ist weitgehend zerstört. TV-Bilder zeigen nur Häuserskelette, ausgebrannte Autos und Straßen voller Schutt und Geröll. Den weniger als 100.000 Menschen, die sich noch in der Stadt aufhalten, fehlt es an Nahrung, Wasser und Strom.

Ost-Offensive: Schneller Vormarsch der Russen befürchtet

Erich Vad, ehemaliger militärischer Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), rechnet mit einem schnellen Vormarsch. „Die Herstellung einer stabilen Landverbindung im Süden – einschließlich der Eroberung Mariupols – könnte Putin in zwei bis drei Wochen erreichen.

Das Gleiche gilt für die Einnahme des gesamten Donbass“, sagte Vad unserer Redaktion. Wenn dies einträfe, könnte Präsident Wladimir Putin versuchen, die Teilsiege im Süden und Osten bei den Feiern zum Sieg über Nazi-Deutschland am 9. Mai als Trophäen vorzuweisen.

„Russlands Offensive im Osten ist nur die Vorphase der Hölle“

„Die Ukraine schätzt, dass Russland rund 60.000 neue Soldaten in den Osten des Landes abkommandieren wird. Ein Teil ist wohl schon da, der Rest wird in der kommenden Woche einrücken“, sagte Gustav Gressel von der Berliner Denkfabrik European Council on Foreign Relations unserer Redaktion. Die Kräfte kämen aus allen Teilen Russlands. „Die Ukraine rechnet damit, dass die Großoffensive der Russen Ende der kommenden Woche beginnen wird.“

Nach Schätzungen von Militärexperten hat Russland zu Beginn des Einmarsches in der gesamten Ukraine 160.000 bis 190.000 Soldaten eingesetzt. „Davon sind derzeit etwa 30.000 bis 50.000 tot oder verwundet.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Von den verbleibenden rund 150.000 bis 120.000 Mann befinden sich etwa 40.000 in einer Neuformierung – in Belarus, auf der Krim und in Westrussland. Etwa 80.000 Soldaten sind derzeit in Kampfhandlungen, vor allem im Gebiet zwischen Charkiw und Cherson“, sagt Gressel. Ihnen stehen in der Ostukraine 60.000 bis 80.000 Soldaten gegenüber.

Ost-Attacke: Noch mehr Gräueltaten?

Die brutale Kriegsführung, die die Bilder von Butscha offenbaren, sei Teil der Kreml-Strategie, unterstreicht Carlo Masala von der Universität der Bundeswehr in München. „Ziel ist es, den Widerstand der ukrainischen Zivilbevölkerung zu brechen.“

Bei den Kämpfen in Mariupol und im Donbass seien noch mehr Gräueltaten zu erwarten. Auch der Russland-Experte Gressel erwartet eine weitere Zunahme von Gewalt. „Putins Kriegsziel ist die Unterwerfung der Ukraine. Das Kalkül: Der Westen liefert Waffen in einem langsameren Tempo, als dies die Ukraine bräuchte. Russlands Großoffensive im Osten ist nur die Vorphase der Hölle.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf waz.de