Kiew/Berlin. Der Berliner Journalist Linus Hennemann lebte rund zwei Monate lang in Kiew und schildert die Eindrücke aus dem Kriegsgebiet.

Kiew rüstet sich für den russischen Großangriff. „Hinter einem großen Kaufhaus heben Soldaten Schützengräben aus, rund 100 Meter breit und drei Meter tief. An den Seiten sind Sandsäcke aufgeschichtet“, sagt Linus Hennemann. Der Berliner ist freier Journalist und lebt seit dem 10. Januar im Stadtteil Obolon, das rund zehn Kilometer vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt entfernt liegt. Montag ist sein letzter Tag in Kiew. Er will mit einem Lastwagen des Deutschen Roten Kreuzes nach Polen ausreisen. „Ich bin heilfroh, endlich herauszukommen“, unterstreicht Hennemann.

Der Krieg hat den Stadtkern von Kiew noch nicht erreicht, aber in den Vororten finden schon Gefechte statt. „Der Lärm von Geschützdonner und Explosionen wird immer lauter, er rückt immer näher“, betont Hennemann. „Die Leute auf der Straße schauen immer wieder nervös nach oben und fragen sich: Wann kommen die Bomber?“

Journalist Linus Hennemann in Kiew. Im Hintergrund sind Panzersperren zu sehen.
Journalist Linus Hennemann in Kiew. Im Hintergrund sind Panzersperren zu sehen. © Privat

Dreimal am Tag gebe es Sirenenalarm. Von 20 bis acht Uhr herrsche Ausgangssperre. Die Kiewer Stadtverwaltung habe angewiesen, nachts kein Licht anzumachen – russische Kampfjets könnten andernfalls Häuser als Ziele markieren. „Wer auf der Straße ist, geht sehr schnell. Es herrscht eine Atmosphäre der Angst.“

Krieg in der Ukraine: „Nach wenigen Stunden ist alles ausverkauft“

Einer der wenigen Wege führt die Menschen in Supermärkte. „Einzelne Läden haben noch auf. Kaufen kann man noch Wasser, Eier, Nudeln, Reis oder Tiefkühlgemüse – das kommt alles aus der Ukraine. Frisches Fleisch, Milch oder Käse gibt es nicht mehr“, so Hennemann. Gelegentlich lieferten Lastwagen Nachschub. „Sobald kleinere Geschäfte öffnen, bilden sich blitzschnell lange Schlagen. Nach wenigen Stunden ist alles ausverkauft, dann gehen wieder die Rollläden herunter.“

Auf den Straßen in Obolon seien überall rund zwei Meter hoher Panzersperren aufgebaut – große Stahlkreuze, die russische Militärfahrzeuge stoppen sollen. An den Seiten seien weiße Sandsäcke aufgestapelt. Soldaten und Freiwillige, die man an ihren gelben Armbinden erkenne, patrouillierten auf den Straßen. „Sie observieren das Gelände. Die wichtigste Frage ist: Woher kommt der Feind?“ Russische Sabotage-Trupps habe er noch nicht gesehen, sagt Hennemann. Aber die Angst vor der Infiltration feindlicher Kräfte sei sehr groß.

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Ukraine-Krieg: Journalist zeigt Situation im Live-Stream

Das hat der Journalist am eigenen Leib zu spüren bekommen. Der Berliner war Mitte Januar nach Kiew gereist, um über Reproduktionsmedizin, künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft zu recherchieren. „Das ist in der Ukraine ein riesiger Markt. Weil die Gesetze hier sehr liberal sind, kommen Leute aus der ganzen Welt“, erklärt Hennemann.

Gleichzeitig habe er am Fenster seiner Wohnung eine Kamera aufgestellt, die über eine Video-Plattform Livestream-Bilder von einer Hauptstraße geliefert habe. „Ich wollte der Welt zeigen, was in der Ukraine passiert. Man hat tagsüber Bombenexplosionen gehört“, sagt Hennemann.

Eine Straße in Kiew, die mit Panzersperren versperrt ist.
Eine Straße in Kiew, die mit Panzersperren versperrt ist. © Privat

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Kiew: Flucht mit Lastwagen des Roten Kreuzes

Am Freitag sei er jedoch von einem Sondereinsatzkommando des ukrainischen Militärs abgeholt und auf eine Polizeiwache geschleppt worden. „Die Sicherheitskräfte wollten wissen, ob ich wegen meines Livestreams ein Spion für die Russen bin. Sie durchsuchten meinen Laptop und mein Handy.“ Die Nacht habe er in einer Gefängniszelle verbracht. „Ich durfte nicht telefonieren. Niemand wusste, wo ich war. Ich hatte Todesangst“, betont der Journalist.

Am Montag wollte Hennemann mit einem Lastwagen des Deutschen Roten Kreuzes nach Polen und dann weiter nach Deutschland. Doch am Nachmittag saß der freie Journalist immer noch in Kiew fest. Der Lastwagen hatte einen Reifenschaden. In der Ferne, so sagt er, könnte man jetzt bereits Kampfflugzeuge hören.

Dieser Artikel ist zuerst auf waz.de erschienen