Berlin . Die EU-Staaten haben erstmals die Massenzustrom-Richtlinie von 2001 in Kraft gesetzt. Was bedeutet das für Flüchtlinge aus der Ukraine?

Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Regelungen: Die EU hat sich angesichts der Fluchtbewegung von inzwischen mehr als einer Million Ukrainerinnen und Ukrainern für eine Umsetzung der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie entschieden – zum allerersten Mal, seit diese im Jahr 2001 beschlossen wurde.

Die EU-Staaten einigten sich am Donnerstag in ihrer Ratssitzung darauf, Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine schnell und unkompliziert mit einheitlichem Schutzstatus aufzunehmen. Wie EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am Donnerstag auf Twitter mitteilte, stimmten die Innenminister der Mitgliedsländer in Brüssel der vorübergehenden Aufnahme der Menschen zu. Johansson sprach von einer „historischen Entscheidung“.

Doch was steckt hinter der Massenzustrom-Richtlinie, die jetzt umgesetzt werden soll?

Massenzustrom-Richtlinie: Seit 2001 unbenutzt – jetzt erstmals in Kraft

Diese Regelung der EU, technisch als 2001/55/EG bezeichnet, bietet einen Mechanismus für die zügige, EU-weit koordinierte Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen. Unkompliziert und schnell ist das Verfahren vor allem, weil die Aufnahme ohne individuelle Asylverfahren und Befolgung des Dublin-Systems vollzogen wird. Zuständig dafür, einen Massenzustrom festzustellen, ist der Rat der Europäischen Union. Die EU-Staaten stimmten am Donnerstag dafür.

Die Richtlinie entstand aus der Erfahrung der großen Zahl von Geflüchteten aus dem ehemaligen Jugoslawien. Europäische Staaten hatten damals unbürokratisch Flüchtlinge aufnehmen müssen. Die Massenzustrom-Richtlinie legt dabei Mindestnormen für die „Gewährung des vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen“ fest.

Wird die Richtlinie in Kraft gesetzt, so wie jetzt im Falle des Ukraine-Kriegs, gelten für die Geflüchteten besondere Schutzregelungen und Maßnahmen:

  • Personen mit vorübergehendem Schutz haben Zugang zum Arbeitsmarkt, sie dürfen selbstständig tätig sein, können aber auch Erlaubnis für ein Beschäftigungsverhältnis beantragen
  • Sie müssen nicht in Flüchtlingsunterkünften wohnen
  • Die Schutzsuchenden erhalten eine soziale Absicherung in Gestalt einer Krankenversicherung, die zumindest akute Gesundheitsrisiken abdeckt
  • Der Schutz endet nach einem Jahr, kann aber mit erneutem qualifiziertem Mehrheitsbeschluss des europäischen Rates erst auf zwei, dann auf drei Jahre maximal verlängert werden
  • Die Massenzustrom-Richtlinie bietet also keine langfristige Bleibeperspektive aber eine kurzfristige gesicherte Aufnahme in einen EU-Staat mit gewissen Sonderrechten (s. Punkt 1 und 2)
  • Den Geflüchteten ist es nicht verwehrt, nebenher einen Antrag auf Asyl zu stellen

Massenzustrom-Richtlinie: Wo genau werden die Menschen untergebracht?

Die zumeist über die polnische Grenze nach Deutschland kommenden Menschen werden auf die Bundesländer verteilt. Sie müssen zwar nicht in Aufnahmeeinrichtungen oder Flüchtlingsunterkünften wohnen und können stattdessen etwa bei Verwandten oder Freunden unterkommen. Grundsätzlich dürfen sie ihren Aufenthaltsort aber nicht frei wählen.

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Die Neuankömmlinge sollen Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten. Das ist weniger als Hartz IV.

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Die EU-Richtlinie sieht zudem den Zugang ins Bildungssystem des Aufnahmelandes vor. Die Bundesländer bereiten sich deshalb zurzeit darauf vor, die Kinder und Jugendlichen in bestimmte Klassen aufzunehmen - in denen etwa auch Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird.

Massenzustrom-Richtlinie soll einheitliche Mindeststandards schaffen

Die Massenzustrom-Richtlinie soll vor allem die Schaffung von sozialen Mindeststandards für Personen, die vorübergehenden Schutz benötigen, regeln. Außerdem gibt es so einen zeitlich beschränkten, aber sicheren Aufenthaltsstatus für alle Schutzsuchenden.

In allen EU-Ländern gelten ab dem 3. März 2022 also dieselben Grundbedingungen für die geflohenen Ukrainer und Ukrainerinnen. Nach Angaben des französischen Innenministers Gérald Darmanin gilt dies „für alle, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten“. (mit dpa)

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Dieser Artikel erschien zuerst auf www.waz.de.