Berlin. Verena Bahlsen gehört ein Viertel des Bahlsen-Konzerns. Wegen Aussagen über Zwangsarbeiter zur NS-Zeit steht sie nun in der Kritik.

Die wohl größte Empörungswelle der Unternehmensgeschichte verdankt Bahlsen den schockierenden Thesen einer 26-jährigen Frau, die Wirtschaft lange spießig fand und lieber Künstlerin werden wollte. Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs? Gab es, aber die seien gut behandelt worden. Persönliche Verantwortung? Sie habe doch damals noch gar nicht gelebt – sagt Verena Bahlsen, der immerhin ein Viertel von Deutschlands bekanntester Keksfirma gehört. Für den Süßgebäck-Produzenten aus Hannover entwickeln sich die Aussagen mehr und mehr zum PR-Debakel.

Verena Bahlsens Aussagen haben eine Diskussion ins Rollen gebracht. Es geht um Schuld, Verantwortung und das Leid Zehntausender Arbeitssklaven. Die Firma, die sich selbst als „modernes internationales Familienunternehmen“ preist, muss sich plötzlich unangenehme Fragen gefallen lassen. Der „Spiegel“ etwa hat herausgefunden, dass die Familie bis 1945 tiefer ins NS-Regime verstrickt war als bislang bekannt, dass die damals verantwortlichen Bahlsen-Brüder Mitglieder der NSDAP waren und die SS finanziell förderten.

Historiker: Verena Bahlsens Aussagen waren „dummes Geschwätz“

Und alles nur, weil Verena Bahlsen der „Bild“-Zeitung ein Interview gegeben hat. Es ging darum, dass viele Mitarbeiter nach Kriegsbeginn 1939 an die Front mussten, das Unternehmen deshalb Zwangsarbeiter einspannte und sich so an der Herrschaft der Nationalsozialisten bereicherte. Trotzdem behauptete die Bahlsen-Erbin: „Das war vor meiner Zeit, und wir haben die Zwangsarbeiter genauso bezahlt wie die Deutschen und sie gut behandelt.“

Der Unfug wirft ein Schlaglicht auf den Umgang deutscher Unternehmen mit ihrer Vergangenheit im Dritten Reich. „Die Äußerungen von Frau Bahlsen waren kein bewusstes Statement der Firma, sondern dummes Geschwätz“, kritisiert der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Johannes Bähr. Er hat die Unternehmensgeschichte der Dresdner Bank und des Flick-Konzerns aufgearbeitet und weiß um die NS-Vergangenheit vieler Konzerne. „Familienunternehmen tun sich schwer mit der NS-Aufarbeitung, weil es da nicht nur um die Vorgänger geht, sondern auch um die eigenen Väter und Großväter der eigenen Inhaber“, sagt Bähr.

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Milliardärsfamilie Reimann: „Wir haben uns geschämt“

Dass es auch anders geht, hat vor wenigen Wochen die Milliardärsfamilie Reimann bewiesen. Die Industriellen-Dynastie aus Ludwigshafen, zu deren Portfolio bekannte Marken wie der Fleckentferner Vanish und der Kondomhersteller Durex gehören, gilt mit ihrem 33-Milliarden-Euro-Vermögen als zweitreichste Familie Deutschlands. Im März kam ans Licht, dass damalige Mitarbeiter Zwangsarbeiterinnen missbraucht haben. Die Familie zeigte sich entsetzt – und räumte alles ein. „Wir haben uns geschämt“, beteuerte Familiensprecher Peter Harf. „Da gibt es nichts zu beschönigen. Diese Verbrechen sind widerlich.“

Verena Bahlsen hat mittlerweile eingesehen, dass ihre Aussagen dem Unternehmen schaden. Sie habe erkannt, dass sie sich intensiver mit der Historie des Unternehmens, dessen Namen sie trägt, beschäftigen müsse: „Als Nachfolgegeneration haben wir Verantwortung für unsere Geschichte.“

Bahlsen will Rolle der Zwangsarbeiter im Unternehmen erforschen

Andere Firmenerben sind offenkundig weiter in ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte. Die Industriellenfamilie Quandt (BMW) etwa ließ bereits 2011 einen Historiker aufdecken, dass Günther Quandt bis 1945 50.000 Zwangsarbeiter einsetzte. Ganz freiwillig war die Aufarbeitung zwar nicht – die Familie wurde durch eine Fernsehdokumentation mit dem Titel „Das Schweigen der Quandts“ aufgeschreckt. Doch nach Lektüre der Forschungsarbeit sagte Enkel Stefan Quandt: „Das war mir vorher nicht so klar.“

Wenn Vertreter der jungen Generation behaupten, ihr Unternehmen sei schuldlos, kann Wirtschaftshistoriker Johannes Bähr das nicht ernst nehmen: „Ich kenne keine Firma, die keine Zwangsarbeiter eingesetzt hat.“ Diese Einsicht setze sich mehr und mehr in den Chefetagen durch. Was allerdings mitunter ganz handfeste, geldwerte Gründe habe: „Es geht ihnen gar nicht immer um tiefe moralische Überzeugungen, sondern um die Angst vor einem Reputationsschaden.“ Familie Bahlsen will daraus lernen – und die Rolle der Zwangsarbeiter während des Krieges nun wissenschaftlich aufarbeiten lassen.