Berlin. Was wird aus SPD-Chefin Andrea Nahles, wenn die Sozialdemokraten schlecht abschneiden? Die Nervosität vor der Europawahl ist groß.

Andrea Nahles marschierte am Sonntag kämpferisch in einem weißen Kapuzenpulli mit blau aufgedruckter Europakarte über die Kölner Domplatte. Eine Woche vor der Europawahl reihte sich die SPD-Chefin in die Schar vieler Demonstrantinnen und Demonstranten ein, die ihre Stimme gegen einen drohenden Rechtsruck auf dem Kontinent erhoben. „Europa darf kein Ort der Nationalstaaten sein, in dem jeder gegen jeden kämpft“, schrieb Nahles bei Twitter. Diese Mahnung lässt sich gut auf einige „Parteifreunde“ der 48-Jährigen münzen.

In der chronisch mit sich selbst beschäftigten SPD wächst mit Blick auf den Wahlabend am nächsten Sonntag die Nervosität. Der rote Europa-Balken, der vor fünf Jahren dank des damaligen Spitzenkandidaten Martin Schulz auf sagenhafte 27,3 Prozent hochgeschnellt war, könnte Umfragen zufolge irgendwo zwischen 15 und 17 Prozent kleben bleiben. Zeitgleich droht ein Debakel in Bremen. Erstmals seit mehr als 70 Jahren könnte dort die CDU vor den Sozialdemokraten liegen. Die wollen sich mit Grünen und Linken in ein rot-rot-grünes Bündnis retten, was die Schmach erträglicher machen würde.

Verliert Nahles nach der Wahl den Fraktionsvorsitz?

Sollte es zu niederschmetternden Ergebnissen kommen, fordern einige in der SPD, dass Nahles dafür einen Preis zu zahlen hat. Sie führt in Personalunion Partei und Bundestagsfraktion. In Letzterer gibt es Überlegungen, Nahles an der Fraktionsspitze etwa durch ihren Stellvertreter, den umtriebigen und versierten Europa-Experten Achim Post (60) aus dem ostwestfälischen Minden, zu ersetzen. Die „Welt am Sonntag“ breitete dieses seit Wochen bekannte Szenario jetzt auf ihrer Titelseite aus.

Bereits Anfang Januar trafen sich die beiden mächtigen Landesgruppen aus Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die 62 der 152 SPD-Bundestagsabgeordneten stellen, zu einer öffentlichen Klausur in Osnabrück. Es war eine Machtdemonstration und eine Warnung an die Vorsitzende. Nahles fuhr damals extra nach Osnabrück, um den möglichen Putschisten in die Augen zu schauen. Die Revolte wurde abgeblasen. Auch jetzt sieht sie keinen Anlass, um nach der Europawahl von der Dauerbaustelle SPD oder der Fraktionsspitze zu fliehen. Dass eine Zersplitterung in Machtzentren nicht der Weisheit letzter Schluss ist, merkt die CDU schmerzhaft.

Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles (l-r) unterhält sich mit der SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley.
Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles (l-r) unterhält sich mit der SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley. © dpa | Roberto Pfeil

Eingeklemmt zwischen Kühnert-Lager und Scholz-Fans

Nahles wähnt sich trotz ausbleibender Wahlerfolge für mögliche Putschversuche gewappnet. Sie habe „Steherqualitäten“, sagte sie unserer Redaktion kürzlich. Dass sie dennoch öfters, als ihr lieb sein kann, in den Ringseilen hängt, wurde deutlich, als Juso-Chef Kevin Kühnert mit seinen Sozialismus-Thesen den mit Nahles verabredeten Nichtangriffspakt brach.

Sie schwieg erst zwei Tage, dann wies sie die Ideen zur Verstaatlichung von BMW und zur Enteignung von Wohnungsbesitzern halbherzig zurück. Nahles ist zwischen dem linken Kühnert-Lager und dem konservativen Olaf-Scholz-Fanclub eingeklemmt. Ihr Bewegungsspielraum würde durch schlechte Wahlergebnisse weiter schrumpfen. Die Kühnert-Attacke könnte ihr aber noch helfen. Gut möglich, dass die Parteispitze in der Vorstandssitzung am Montag nach den Wahlen dem Juso-Chef eine Mitverantwortung für ein schlechtes Abschneiden zuschiebt.

Kühnert könnte schlecht wegkommen

Dass Betriebsratschefs von BMW und Daimler von einer Stimmabgabe für die SPD abrieten, mag zwar hysterisch wie die ganze Debatte gewesen sein, wird aber Kühnert als Urheber angelastet. „Kevin hat sein Pulver verschossen“, glaubt ein Spitzengenosse. Außerdem würde es die Glaubwürdigkeit der SPD erschüttern, sollten sich die Genossen in einem Moment zerfleischen, in dem der sozialistische Spitzenkandidat Frans Timmermans Chancen auf den Job als EU-Kommissionspräsident hat.

Um den Druck zu kanalisieren, gibt es Pläne, beim Dezember-Parteitag in Berlin, der über die Fortsetzung der Koalition abstimmt, den Koalitionspartner Union mit beinharten Forderungen zu konfrontieren. CDU und CSU müssten dann springen und die Wünsche erfüllen – oder die SPD steigt aus der Koalition aus. Ein Stratege sagt, die Position der SPD sei trotz 15 Prozent gar nicht so schlecht. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hänge als Möchtegern-Kanzlerin in der Luft und werde keinen Bruch der Regierung riskieren. Denn dann könnte ihr Grünen-Liebling Robert Habeck das Kanzleramt wegschnappen.

Barley zieht ins EU-Parlament um

Die Grünen dürften bei Europa das erste Mal bei einer nationalen Wahl vor der SPD auf Platz zwei landen. Für die 450.000 SPD-Mitglieder wäre das eine Demütigung. Ein bisschen unter geht auch, dass am Sonntag viele Kommunalwahlen anstehen. Verliert die SPD en masse Bürgermeisterposten und Mandate, könnte der Frust über die große Koalition wieder anschwellen. Zumal bei den Ostwahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen kaum Besserung in Sicht ist. Nahles und Finanzminister Olaf Scholz wollen mit Regierungserfolgen dagegenhalten. Die teure Grundrente soll trotz Unionswiderstand kommen.

Einen Jobwechsel wird es bei der SPD auf jeden Fall geben – ganz ohne Putsch. Europa-Spitzenkandidatin Katarina Barley zieht ins EU-Parlament um. Nahles wird schon bald eine neue Justizministerin präsentieren.

Europa darf kein Ort der Nationalstaaten sein, in dem jeder gegen jeden kämpft
Andrea Nahles, SPD-Vorsitzende