Brüssel. Wann darf man Missstände beim Arbeitgeber verraten? Die EU schafft jetzt neue Regeln für den Umgang mit sogenannten Whistleblowern.

Die Enthüllung der Panama Papers über internationalen Steuerbetrug, der Skandal um den Handel mit Facebook-Daten oder Teile von „Diesel-Gate“ haben eines gemeinsam: Sie wären möglicherweise unentdeckt geblieben, wenn nicht Insider die brisanten Informationen an die Öffentlichkeit gebracht hätten.

So wie auch der Brandenburger Lkw-Fahrer Miroslaw Strecker, der 2007 den Gammelfleischskandal aufdeckte. Der damalige Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) zeichnete ihn aus – sein Arbeitgeber kündigte ihm einige Jahre später.

Hinweisgeber leben gefährlich: Ihnen drohen Jobverlust und strafrechtliche Konsequenzen. Jetzt will die EU den Whistleblowern helfen: Das EU-Parlament verabschiedet an diesem Dienstag neue Vorschriften, die Arbeitnehmern und anderen Hinweisge­bern ein hohes Maß an Schutz garantieren, wenn sie Verstöße gegen europäisches Recht melden – von Steuerbetrug über Datenmissbrauch bis zur Korruption.

Vorschriften müssen bis 2021 nationales Recht werden

Die Richtlinie ist allerdings umstritten. Die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International feiert einen „historischen“ Fortschritt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund sieht „endlich Rechtssicherheit für mutige und integre Beschäftigte“, wie DGB-Vorstand Annelie Buntenbach unserer Redaktion sagt. Arbeitgeberverbände halten die neuen Regeln dagegen bestenfalls für über­flüssig und fürchten um den Betriebsfrieden.

Die Vorschriften, die bis 2021 in nationales Recht umgesetzt werden müssen, gehen auf einen Vorschlag der EU-Kommission zurück. Ihr Vizepräsident Frans Timmermans sagt: „Hinweisge­ber tun das Richtige für die Gesellschaft und sollten von uns geschützt werden, damit sie dafür nicht bestraft, entlassen, de­gradiert oder vor Gericht verklagt werden.“

Auch Praktikanten, Ehrenamtler und Selbstständige sollen geschützt werden

Geschützt sind künftig alle Hinweisgeber, die in privaten Unternehmen oder in öffentlichen Stellen tätig sind und dort erlangte Informationen über Rechtsverstöße melden. Das betrifft nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Selbstständige, Praktikanten, Ehrenamtler oder Auftragnehmer. Den Arbeitgebern ist verboten, auf derartige Missstands-Hinweise mit Repressalien zu reagieren – der Katalog untersagter Maßnahmen reicht von der Suspendierung oder Entlassung des Betroffenen bis hin zu Einschüchterung, Diskriminierung oder Aufgabenverlagerungen; Zulieferern dürfen Aufträge nicht gekündigt werden.

Zum Schutz müssen die EU-Staaten kostenlose Informations- und Beratungsmöglichkeiten anbieten. Vor Gericht muss der Arbeitgeber nachweisen, dass es sich bei einer beklagten Benachteiligung eines Beschäftigten nicht um Vergeltung handelt. Wie hoch die Strafen bei Verstößen ausfallen, müssen die Mitgliedstaaten festlegen.

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EU-Parlament gibt einen Beschwerdeweg vor

Auf EU-Ebene waren vor allem die Vorgaben für den Beschwerdeweg umstritten: Das EU-Parlament hat sich am Ende – auch gegen Bedenken Deutschlands – durchgesetzt, jetzt gilt eine arbeitnehmerfreundliche Flexibilität. Die Hinweisgeber werden ermutigt, aber nicht verpflichtet, Missstände zunächst intern zu melden – empfohlen wird das, wenn der Verstoß innerhalb der Organisation wirksam angegangen werden kann und keine Vergeltungsmaßnahmen drohen. Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten oder mehr als zehn Millionen Euro Jahresumsatz müssen dazu eine interne Meldestelle einrichten, die Hinweise aufnimmt und weiterverfolgt.

Je nach Umständen oder wenn es keinen internen Meldekanal gibt, sollen die Beschwerdeführer aber auch direkt Behörden einschalten können – ebenso, wenn der Betrieb nicht innerhalb von drei Monaten angemessen reagiert. Wenn auch die staatliche Aufsicht binnen sechs Monaten nicht handelt, kann sich der Hinweisgeber unter Wahrung der gesetzlichen Schutzgarantien an die Medien oder andere Teile der Öffentlichkeit wenden. Dieser Schritt ist auch sofort möglich, wenn Gefahr besteht oder wenn eine Behörde die mutmaßliche Straftat deckt.

Die Regeln zielen auf alle Bereiche, in denen EU-Recht gilt – die reichen von öffentlichen Aufträgen und Produkt-, Lebensmittel- und Verkehrssicherheit über Umweltschutz, Atomsicherheit und Tierschutz bis hin zum Schutz von Gesundheit, Verbrauchern und Daten.

Bisher sind Whistleblower nur in zehn EU-Staaten richtig geschützt

Bislang gibt es nur in zehn EU-Staaten Regeln, die Hinweisgeber uneingeschränkt schützen. Deutschland gehört nicht dazu. Allerdings hat bereits die Mehrzahl der heimischen Dax-Unternehmen interne Kommunikationswege eingerichtet – Briefkästen, Ombudsmänner oder Telefonhotlines, über die Mitarbeiter auch anonym Hinweise über Missstände geben können.

Doch nach wie vor gilt in Deutschland wie anderswo: Hinweisgeber fürchten oft berufliche Nachteile. In einer Umfrage für die EU-Kommission hatten 81 Prozent der Europäer erklärt, sie hätten erlebte oder beobachtete Korruption nicht gemeldet.

Die Brüsseler Gesetzesmacher fühlten sich durch den Fall der Panama Papers ermutigt: Eine anonyme Quelle, die sich „John Doe“ nennt, hatte anhand von Daten von über 200.000 Briefkastenfirmen offengelegt, wie Firmen auf internationaler Ebene systematisch Steuerhinterziehung organisieren. „John Doe“ gab später an, er hätte von Anfang an mit den Behörden zusammengearbeitet, wenn es Rechtsschutz für Whistleblower wie ihn gäbe; so hatte er seine Dokumente einem Journalisten-Netzwerk übergeben.

Die Arbeitgeberverbände sind skeptisch

Der Deutsche Gewerkschaftsbund lobt, Beschäftigte seien künftig vor Vergeltungsmaßnahmen durch den Arbeitgeber geschützt, wenn sie etwa Steuerbetrug, Geldwäsche oder Verstöße gegen Umwelt- und Datenschutz meldeten. „Das macht es wahrscheinlicher, dass Wirtschaftsskandale ans Licht kommen“, sagt DGB-Vorstand Buntenbach. Transparency International lobt: „Die Vorschriften werden Einzelpersonen, die bei Korruption oder Illegalität am Arbeitsplatz auftreten möchten, einen weitaus größeren Schutz bieten“.

Doch die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) ist skeptisch. Während der Gesetzesberatungen hatte der BDA gewarnt, die Regelungen gefährdeten den Betriebsfrieden und setzten Beschäftigte der Gefahr aus, zu Unrecht von Kollegen belastet zu werden. Jetzt mahnt der Verband gegenüber unserer Redaktion, Deutschland müsse die Richtlinie mit Augenmaß umsetzen. In vielen Unternehmen gebe es bereits Möglichkeiten zur Meldung innerbetrieblicher Missstände, die vorrangig genutzt werden sollten: „Es liegt im Interesse der Unternehmen, Fehler frühzeitig aufzudecken und abzustellen“, erklärt der BDA. (Christian Kerl)