In einer Villa am Wannsee in Berlin trafen sich heute vor 70 Jahren Funktionäre des Dritten Reiches zu der historischen Wannseekonferenz.

Hamburg/Berlin. Selbst im nasskalten Berliner Januar hat es etwas Erhebendes, das Grundstück Am Großen Wannsee 56-58 zu betreten. Mehr als 50 Meter weit ist der Weg vom Tor zur Villa. Man geht durch einen Park auf den säulengeschmückten Hauseingang zu, umrundet ein ovales Grün. Dann steht man in der großzügigen runden Eingangshalle mit der umlaufenden Treppe und möchte sich sofort in die Villa verlieben, eine der schönsten der ganzen Stadt - wenn, ja wenn nicht die Vergangenheit dieses Hauses wäre.

Denn vor 70 Jahren, am 20. Januar 1942, kamen hier zehn hohe Staats- und Parteifunktionäre des Dritten Reiches sowie fünf Mitglieder des SS-Apparates zusammen, um eine folgenreiche Besprechung abzuhalten. Sie wussten, worum es gehen sollte. Das hatte Reinhard Heydrich, der zweite Mann der SS und Chef des Reichssicherheitshauptamtes, unmissverständlich in der Einladung geschrieben: Es sollte um die "Endlösung der Judenfrage" gehen. Alle Anwesenden hatten bereits intensiv an der Ausgrenzung, Entrechtung und Ausplünderung deutscher und ausländischer Juden mitgewirkt. Sie kannten sich aus, deshalb waren sie ja eingeladen. Nun ging es um die grausamste Steigerung des Antisemitismus: um physische Vernichtung.

70 Jahre später ist es selten still im Erdgeschoss des 1500-Quadratmeter-Luxushauses, das 1914 für einen Berliner Unternehmer errichtet worden war. Denn mehr als 100 000 Besucher im Jahr zählt die Gedenkstätte "Haus der Wannseekonferenz" inzwischen, das liegt eigentlich über der Kapazitätsgrenze, sagt Leiter Norbert Kampe.

Vor allem im Gartensaal, dem Ort der nur 85 Minuten langen Besprechung, stehen immer Besucher. Der Raum mit dem edlen Parkett und dem anschließenden, mit Stucksäulen und einem Zimmerspringbrunnen verzierten Wintergarten hat sich weitgehend erhalten. Nur die Möbel sind andere: Wo 1942 ein großer Besprechungstisch mit 16 Sesseln stand, wird heute in einer tischartigen Vitrine unter Glasplatten ein Faksimile des Sitzungsprotokolls gezeigt.

Nur durch Zufall blieb ein einziges der 30 Exemplare erhalten; alle anderen wurden gegen Ende des Zweiten Weltkrieges beseitigt. Die Teilnehmer der Konferenz wussten, warum. Denn obwohl sorgfältig redigiert, enthält das Ergebnisprotokoll unmissverständliche Formulierungen. Zwar ist an keiner Stelle von "Mord" oder "töten" die Rede, doch dafür Tarnvokabeln wie "Evakuierung der Juden nach dem Osten" oder "natürliche Verminderung" der "straßenbauend" nach Osten geführten "arbeitsfähigen Juden".

Nur manchmal scheint die mörderische Brutalität durch, etwa in dem Satz: "Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist." Geredet aber wurde auf der Konferenz nach Erinnerungen einiger Teilnehmer ganz offen.

Manchen Nazi-Funktionären konnte der Mord nicht schnell genug kommen. Josef Bühler, der zweite Mann der "Generalgouvernement" genannten deutschen Verwaltung im besetzten Polen, drängte den überzeugten Antisemiten Heydrich zu höherem Tempo: "Juden müssten so schnell wie möglich aus dem Gebiet des Generalgouvernements entfernt werden, weil gerade hier der Jude als Seuchenträger eine eminente Gefahr bedeutet." Dabei spiele hier "das Transportproblem keine übergeordnete Rolle".

Heydrich und sein Judenreferent und Protokollführer Adolf Eichmann nahmen den Vorschlag auf - die Folge waren die deutschen Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka auf polnischem Boden, in denen in den folgenden anderthalb Jahren rund zwei Millionen Menschen vergast wurden. Danach kam dann noch Auschwitz-Birkenau, die beinahe perfekte Mordfabrik.

Im heutigen Bewusstsein, in Schulbüchern, Zeitungsartikeln und TV-Dokumentationen gilt die Wannseekonferenz als Ausgangspunkt des Holocaust. Doch bemüht sich die Ausstellung der Gedenkstätte redlich, diese allzu einfache Sicht zu differenzieren, ebenso in den stark nachgefragten Seminaren und Studientagen.

Denn als am 20. Januar 1942 die 15 hohen Funktionäre in der Wannseevilla zusammenkamen, war der unterschiedslose Massenmord an Europas Juden längst im Gang. Gerade einen Tag zuvor hatte zum Beispiel der neunte Deportationszug mit 1000 Berliner Juden die Reichshauptstadt verlassen. Selbst zum ursprünglich angesetzten Termin der Konferenz, dem 9. Dezember 1941, hatte das Morden bereits begonnen - am 8. Dezember nahm die erste stationäre Mordfabrik der SS auf polnischem Boden in Chelmno (Kulmhof) ihre mörderische Arbeit auf, am 6. Dezember waren knapp 1000 Hamburger Juden "in den Osten" geschickt worden, in den fast sicheren Tod. Wenn das Töten bereits begonnen hatte - wozu eine Besprechung über Fragen, die angeblich "keinen längeren Aufschub zulassen"? Nicht einmal unter den besten Kennern der Materie herrscht darüber Einigkeit - das wird sich heute und morgen auf einer internationalen Historikerkonferenz zeigen, die zum 70. Jahrestag der Wannseekonferenz stattfindet. Im Wesentlichen gibt es fünf Deutungen der Besprechung.

Laut Eberhard Jäckel diente das Treffen Heydrich nur dazu, seine Zuständigkeit für die Judenpolitik den Spitzenbeamten der Ministerien vorzuführen. Doch diese Interpretation beruht auf der Annahme, es habe einen zentralen Befehl von Hitler gegeben, mit dem Judenmord zu beginnen. Ein solcher Befehl ist jedoch nie gefunden worden und passt auch gar nicht in die schrittweise Eskalation der antisemitischen Politik des Dritten Reiches.

Für Hans Mommsen dagegen hatte die Besprechung "in erster Linie die Funktion, die beteiligten Ressorts für die von Heydrich geforderte Ausweitung des Judenbegriffs zu gewinnen" - was ihm durch Widerspruch des zuständigen Staatssekretärs im Reichsinnenministerium, Wilhelm Stuckart, jedoch misslang. In der Tat spricht viel für diese Deutung - doch nicht zu erklären ist damit, warum Heydrich mit dem Verlauf dann sehr zufrieden war, wie Adolf Eichmann rückblickend aussagte.

Die "Momentaufnahme eines Übergangsprozesses" sieht Peter Longerich in der Konferenz. Seiner Ansicht nach hatten Himmler, Heydrich und die SS eigentlich vorgehabt, den Judenmord nach dem Sieg über die Sowjetunion umzusetzen. Angesichts der schweren Rückschläge der Wehrmacht an der Ostfront entschieden sie jedoch, die vollständige Ausrottung bereits während des Krieges durchzuführen. Das Problem an dieser Deutung ist, dass die ursprüngliche Einladung für die Besprechung am 29. November 1941 abgeschickt wurde - also bevor die deutsche Offensive vor Moskau zusammenbrach.

Irgendwelche Beschlüsse fällten die Teilnehmer der Wannseekonferenz dem Protokoll zufolge nicht. Ging es also vielleicht darum, die Vertreter der Ministerien gewissermaßen offiziell zu Komplizen zu machen? Dafür würde sprechen, dass mit Rudolf Lange ein "Praktiker des Massenmordes" am Tisch saß, unter dessen Befehl bis zum 20. Januar 1942 mehrere Zehntausend Menschen im Baltikum von SS und Polizei ermordet worden waren. Sollte seine Anwesenheit den Schreibtischtätern der Bürokratie vor Augen führen, dass es sich bei der Endlösung um ein archaisches, ein im wörtlichen Sinne blutiges Geschäft handelte?

Oder gingen Heydrich und Eichmann vielleicht ohne klares Konzept in die Sitzung und griffen "begierig" Bühlers Dringen auf eine schnelle Umorganisation der Judenvernichtung von vielen kleinen Mordeinheiten vor Ort zu wenigen zentralen Tötungslagern auf? So interpretiert Heydrich-Biograf Robert Gerwarth die Konferenz.

All diese unterschiedlichen Deutungen werden in der Ausstellung der Gedenkstätte angesprochen. Doch die typischen Besucher, darunter viele Schüler und Nicht-Deutsche, überfordern solche Differenzierungen naturgemäß. Sie wollen sich über den Holocaust als Menschheitsverbrechen informieren. Eine Rolle spielt sicher auch der Grusel, am authentischen Ort zu sein. In eben diesem Raum, in dem Heydrich und Eichmann ihr Ziel vorstellten: über elf Millionen Juden in Europa umzubringen.

Die sechste Seite des Sitzungsprotokolls ist eine Tabelle, in der getrennt nach bereits vollständig deutsch beherrschten Gebieten und noch umkämpften, verbündeten oder feindlichen Staaten die Zahl der potenziellen Opfer aufgeführt ist. Darin findet sich die heute verstörende, damals aber mit Stolz niedergeschriebene Feststellung "Estland - judenfrei".

Nicht einmal in den trübsten Wintermonaten ist in der Umgebung der Wannsee-Villa diese kalte mörderische Logik der Schreibtischtäter nachvollziehbar. Noch viel schwerer wird es, wenn man die Gedenkstätte im Sommer aufsucht, wenn der Gartensaal in gleißendes Licht getaucht ist, auf dem Großen Wannsee Hunderte Segelboote ihre Bahnen ziehen. Der Kontrast zwischen den großformatigen Fotos aus KZs auf den Ausstellungstafeln und der Eleganz der Räume ist unüberbrückbar.

Heute erinnern die Bundesrepublik und der Staat Israel mit einem Festakt im Gartensaal an den 70. Jahrestag der Konferenz und ihre mörderischen, wenngleich indirekten Folgen. Als Repräsentant der israelischen Regierung kommt Minister Jossi Peled, der als Kleinkind im besetzten Belgien von NS-Gegnern versteckt wurde und so den Holocaust überlebte. Seine Familie wurde zum größten Teil umgebracht. Auch zwei Generationen nach 1945 ist der millionenfache Mord an Europas Juden präsent - nicht nur, aber auch Am Großen Wannsee 56-58.