Berlin. Das Urteil gegen einen der Kidnapper des Vietnamesen Trinh Xuan Thanh in Berlin legt offen, wie Geheimdienste das Recht brechen.

Für das Dessert bleibt keine Zeit. Nach nur 50 Minuten drängt der Gast aus Vietnam auf Abreise. Innenminister To Lam hat es eilig, nichts hält ihn auf. Nicht der Abschluss eines mehrgängigen Mittagessens, nicht die einzigartige Architektur von Hotel Borik in Bratislava, auch nicht der weite Blick auf die Donau.

21 Minuten Autofahrt sind es bis zum Flughafen, wo am VIP-Terminal ein Flugzeug der slowakischen Regierung auf den Minister aus Vietnam und seine zwölfköpfige Delegation wartet.

Der Gast will an diesem 26. Juli 2017 umgehend den EU-Raum Richtung Moskau verlassen und weiter nach Hanoi fliegen. Denn in Lams Delegation ist ein blinder Passagier der besonderen Art: Trinh Xuan Thanh, 51 Jahre alt, Geschäftsmann, Ex-Funktionär der Kommunistischen Partei Vietnams, in Ungnade gefallen, zum Staatsfeind erklärt, drei Tage zuvor in Berlin auf offener Straße vom vietnamesischen Geheimdienst entführt.

Hat die slowakische Regierung die Häscher unterstützt?

Seine Verschleppung sorgt im Sommer 2017 für außenpolitische Irritationen und zieht bis heute Kreise. Im Herbst 2018 leitet die Staatsanwaltschaft in Bratislava Ermittlungen ein. Sie will klären, ob die slowakische Regierung die Häscher unterstützt hat.

Etwas vorher, am 25. Juli 2018, verurteilt der 3. Straf­senat des Kammergerichts Berlin nach dreimonatigen Verhandlungen einen Kidnapper, den 46-jährigen Nguyen Hai Long, „wegen geheimdienstlicher Tätigkeit“ zu drei Jahren und zehn Monaten Haft.

Monate vergehen, bis die Richter die Urteilsgründe schriftlich darlegen und schließlich auch dem Antrag dieser Redaktion auf Einsicht stattgeben.

Die 45 Seiten „im Namen des Volkes“ überführen das Regime; widerlegen die Version, Thanh sei freiwillig in die Heimat zurückgekehrt. Minutiös schildert das Berliner Gericht das Schurkenstück im Staatsauftrag: ein Lehrbeispiel für den Modus Operandi von Geheimdiensten, aber auch für die moderne Polizeiarbeit der 4. Mordkommission.

„Beispiellose Verletzung der Souveränität“

Die Aktion war dreist, aufwendig, hochriskant und politisch verheerend. Die Richter sprechen von einer „eklatanten“, in dieser Form in der jüngsten Vergangenheit „beispiellosen Verletzung der Souveränität“.

Die Entführer schnappten sich Thanh, hinterließen aber zu viele Spuren, um unentdeckt zu bleiben. Sie mussten improvisieren und standen unter Druck. Sie hatten ein Zeitfenster von fünf Tagen, vom 19. bis 24. Juli 2017.

Fast ein Jahr lang hatten die Vietnamesen zuvor versucht, Thanh auf legalem Weg zu fassen. Sie werfen ihm Veruntreuung vor. Nach der Verschleppung wird ihm der (Schau-)Prozess gemacht, er wird zu zweimal „lebenslänglich“ verurteilt. Das Berliner Gericht deutet Entführung und Prozess als Versuch, die Anhänger des Reformflügels der KP zu diskreditieren und an Thanh als Protegé des früheren Ministerpräsidenten Nguyen Tan Dung ein Exempel zu statuieren.

Die Vietnamesen machen Thanh auf eigene Faust in Berlin ausfindig

Im August 2016 hatte Thanh sich aus dem vietnamesischen Hausarrest heraus nach Deutschland abgesetzt und Asyl beantragt – einen Monat nach seiner Familie. Am 13. September 2016 geht beim Bundeskriminalamt ein Aufenthaltsermittlungsersuchen aus Vietnam ein, Tage später ein internationaler Haftbefehl, am 21. September ein Auslieferungsersuchen und am 30. eine „Red Notice“, ein weltweites Fahndungsersuchen über Interpol.

Im Oktober machen die Vietnamesen auf eigene Faust Thanh in Berlin ausfindig, im November informieren sie die Bundespolizei über seinen Aufenthalt. Weil die deutschen Behörden den Asylbewerber schützen, wendet sich Vietnams Ministerpräsident in einem Brief sowie persönlich am Rande des G20-Gipfels Anfang Juli 2017 an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). All das ohne den von den Vietnamesen gewünschten Erfolg.

Der Lockvogel im Anflug aus Paris wird in Tegel erwartet

Das Gericht in Berlin hat keinen Zweifel, dass Innenminister Lam sich danach in Absprache mit dem Geheimdienst Tong Cuc zur Entführung entschließt. Kein einfaches Unterfangen. Thanh ist auf der Hut. Im Exil tritt er selten unbegleitet auf.

Die Vietnamesen setzen darauf, dass er trotzdem alle Vorsichtsmaßnahmen fahren lassen wird. Ein Lockvogel ist im Anflug. Sie wissen, dass Thanh in Vietnam eine Geliebte hat, die am 19. Juli 2017 über Paris nach Berlin fliegen will und bis zum 24. ein Zimmer im Hotel Sheraton gebucht hat.

Auf dem Flughafen Charles de Gaulle lauern die Agenten. Vorsorglich werden für jeden Flug nach Berlin Plätze reserviert. Das erste Überwachungsteam trifft um 9.26 Uhr am Flughafen Tegel ein, das nächste gegen 11.30 Uhr, die letzten Agenten um 21.31 Uhr.

Die Geliebte wird auf Schritt und Tritt überwacht

Bis die 26-jährige Frau um 12.56 Uhr landet und gegen 13.51 Uhr im Hotel eincheckt, dreht ein Kommando in einem Auto Runden auf dem Parkplatz in Tegel. Seiner Ehefrau hatte Thanh erzählt, wegen eines Anhörungstermins müsse er einige Tage in der Asylbewerberunterkunft übernachten, nicht zu Hause.

Seit ihrer Ankunft wird die Geliebte auf Schritt und Tritt verfolgt. Vor dem Hotel steht ein Posten, das Paar wird am 20. Juli beim Bummeln am Potsdamer Platz und einen Tag später beim Essen bei einem Italiener in Schöneberg beschattet.

Geleitet wird die Operation vom Vizechef der vietnamesischen Staatssicherheit, Duong Minh Hung, einem Zwei-Sterne-General. Seine Mitarbeiter sind aus Vietnam, Paris, Prag und Berlin zusammengezogen worden. Agenten, Zivilisten, Botschaftspersonal.

Die Hauptfahrzeuge werden in Prag besorgt

Die Flugtickets werden von Strohmännern gekauft. Zimmer werden in den umliegenden Hotels Berlin, Berlin und Sylter Hof – Kommandozentrale des Generals – sowie in einer Pension in Friedrichshain vom 16. bis zum 25. Juli reserviert. Die Rechnungen bezahlen sie mit Kreditkarten auf fremde Namen. Zum Telefonieren nehmen sie eigens angeschaffte Sim-Karten mit fiktiven Nutzerdaten.

Die Hauptfahrzeuge, ein BMW X5, ein VW T 5 sowie ein Mercedes Vito, werden nach Einschätzung des Gerichts zur Verschleierung nicht in Berlin, sondern in Prag besorgt. Helfershelfer Long kennt dort einen Vermieter, der auf die schriftliche Dokumentation des Mietvertrages verzichtet. Davon verspricht sich der Geheimdienst, das Geschehen undurchsichtiger zu machen.

Der später in Prag gefasste und in Berlin verurteilte Fahrer ist „lediglich ein Befehlsempfänger“, so die Berliner Richter. Der Mann soll die Autos besorgen, logistische Aufgaben übernehmen und Spuren beseitigen. Allerdings entgeht ihm, dass die Fahrzeuge mit GPS ausgestattet sind. Er ist auch der einzige Täter, der sein eigenes Handy benutzt. Sorglosigkeiten, die sich rächen werden.

Der General gibt das Startsignal für die Entführung

Über einen Mittelsmann wird Thanh erst mal zu einer Runde Golf in einem Golfclub in Berlin-Gatow eingeladen. Dort soll die Falle zuschnappen. Er lehnt ab. So verstreichen die Tage, ohne dass sich eine Gelegenheit bietet. Der 23. Juli bricht an, der Tag vor dem Abflug der Geliebten – ein Zeitfenster schließt sich.

Gegen 10.39 Uhr verlässt das Pärchen das Hotel und geht spazieren. Thanh und die Frau schlagen den Weg zum Tiergarten ein. Den Vietnamesen wird klar: jetzt oder gar nicht. Der General gibt das Startsignal für die Aktion.

Der VW fährt los, über den Lützowplatz und die Klingelhöferstraße erreicht er die Hofjägerallee Richtung Siegessäule, das Paar ist auf Höhe eines Fußgänger- und Radwegs, als der Kleinbus um 10.47 Uhr stoppt. Die Schiebetür öffnet sich, Agenten springen raus, laufen auf die Opfer zu und ringen sie zu Boden. Das Pärchen verliert im Handgemenge eine Sonnenbrille und ein Handy, ein iPhone 7. Beide wehren sich und werden verletzt, die Frau bricht sich den Arm. Sie ist ein Opfer, offenbar nicht eingeweiht und, ohne zu wissen, Lockvogel.

Ein Berliner Autofahrer nimmt die Verfolgung auf

Es ist Sonntag, leichter Regen, wenig Verkehr. Trotzdem bleibt die Aktion am helllichten Tag nicht unbemerkt. Es gibt Zeugen: einen Jogger, zwei Radfahrer, zwei Autofahrer. Während bei der Polizei erste Notrufe eingehen, nimmt ein Autofahrer die Verfolgung auf. Er fotografiert mit seinem Handy den VW mit tschechischem Kennzeichen. Weil sein kleiner Sohn dabei ist, bricht der Berliner die Verfolgung ab.

„Dieses Foto“, heißt es im Gerichtsurteil, „sollte wenig später den Ausgangspunkt der umgehend von der ­Berliner Kriminalpolizei eingeleiteten Ermittlungen darstellen“. Ohne Kommissar Zufall, „ohne das Kennzeichen wäre es viel schwieriger geworden“, weiß Thanhs Anwältin Petra Isabel Schlagenhauf.

Die Juristin ist es, die am Tag danach eine Vermisstenanzeige aufgibt. Sie wittert Unheil, als ihr Mandant am Morgen nicht zur Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erscheint. Mit der Vermisstenanzeige ist die Identität des Opfers klar und eine politische Verstrickung wahrscheinlich.

Die Ermittler rekonstruieren den Tatverlauf

Am 24. Juli läuft der Polizeiapparat an. Über das Kennzeichen kommen die Ermittler zum Prager Autovermittler. GPS-Daten, Funkzellenverbindungen, Videoaufnahmen aus den Hotels, öffentlichen Plätzen, Grenzübergängen und Mautstellen werden ausgewertet. Die Fahrzeuge werden in Prag beschlagnahmt, sie sind nachlässig gesäubert worden – in einem findet man Blutspuren der Opfer. Nach und nach rekonstruieren die Ermittler Tatverlauf, Bewegungsprofile und Identität vieler Täter.

Die Frau wird noch am 23 Juli, von zwei Agenten begleitet, in einer Linienmaschine über Peking und Seoul nach Hanoi gebracht. Mit einer gefälschten Vollmacht verschaffen sich zwei Täter Zugang zu ihrem Hotelzimmer, packen Koffer und Einkaufstüten, beseitigen Spuren. Während die Geliebte des Entführten im Flugzeug sitzt, wird am Abend in einem Prager Restaurant auf den Erfolg der Operation angestoßen.

Schwieriger ist es, Thanh außer Landes zu bringen. Zunächst wird er zur Botschaft in Berlin gebracht. Das Gericht vermutet, dass er dort festgehalten wird. Am 25. Juli fahren zwei Botschaftswagen mit Diplomatenkennzeichen im Konvoi Richtung tschechische Grenze, die sie gegen 15 Uhr passieren. In Brünn, am Übergang zur Slowakei, wird das Opfer am Abend schließlich in einen gemieteten Mercedes Vito umgeladen.

Die Vietnamesen verlassen Europa überstürzt

Minister Lam hält sich in Paris auf. Mit seinem slowakischen Amtskollegen vereinbart er ein Treffen; auf Wunsch der Vietnamesen wird es von Wien nach Bratislava verlegt. Lam reist nach Prag und lässt sich mit einer slowakischen Maschine nach Bratislava fliegen. Das Arbeitsessen im regierungseigenen Gästehaus Borik ist für etwa 13.30 Uhr terminiert. Eine Stunde früher hatte der Wagen mit dem Entführungsopfer das Hotel erreicht. Zwei Gruppen kommen zusammen, vor den Kulissen die offizielle Delegation, dahinter die Kidnapper.

Die Slowaken bittet man, mit einer Regierungsmaschine nach Moskau gebracht zu werden. Dabei will sich Lam, so das Gericht, „den Umstand zunutze machen, dass bei einer Reise mit einem regierungseigenen Flugzeug nur mit oberflächlichen Kontrollen zu rechnen sein würde“.

Die Gastgeber bieten an, die Delegation direkt nach Hanoi zu fliegen, aber für die Einholung der Überflugrechte würde viel Zeit verstreichen. Die Vietnamesen wollen nicht warten. Jede unnötige Stunde im EU-Raum ist ein Risiko. Sie müssen befürchten, dass die Ermittler ihnen auf den Fersen sind.

Polizisten sahen, wie ein Mann zum Flugzeug geschleppt wurde

Tatsächlich sind sie zu diesem Zeitpunkt den Spuren bis Prag gefolgt. Am 28. Juli lassen sie Autos beschlagnahmen, am 12. August wird Fahrer Long verhaftet und nach Deutschland überstellt.

Bis auf Long, der sich sicher fühlt, und die Diplomaten – durch ihren Status geschützt – nehmen alle Entführer in den Tagen nach der Entführung Reißaus; einer von ihnen überschreibt vorher noch hastig sein Luxusapartment in Prag auf seine Frau. Unklar ist, ob die Slowaken eingeweiht oder ahnungslos Teil einer Legende für die Verschleppung sind.

Thanh kommt mit einem Diplomatenpass auf dem Namen Luu Viet Trung durch die Kontrollen in Bratislava. Man hätte stutzig werden müssen, weil in seinem Pass Visum und Einreisestempel fehlen. Laut der slowakischen Zeitung „Dennik N“ liegen der Staatsanwaltschaft in Bratislava die Zeugenaussagen von zwei Polizisten vor, die gesehen haben sollen, wie ein verletzter und betäubt wirkender Mann zum Flugzeug geschleppt worden sei, wahrscheinlich Trinh Xuan Thanh.

Wird Thanh bald freigelassen – auf Druck Deutschlands?

In Berlin wird nun darüber spekuliert, dass Thanh auf politischen Druck aus Deutschland freigelassen werden könnte – womöglich, wenn der in Berlin zu drei Jahren und zehn Monaten verurteilte Nguyen Hai Long vorzeitig entlassen wird. Die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ hatte schon zum Jahrestag der Entführung im Sommer 2018 „mit einer baldigen Freilassung des Verschleppten“ gerechnet. In Sicherheitskreisen dämpft man indes die Erwartungen, „das dauert noch“.