Berlin. Ein Lungenarzt löste eine Debatte um Diesel-Grenzwerte aus. Seine Kollegen sind sauer. Die Regierung möchte wissenschaftliche Klärung.

In den Fluren der ambulanten Lungenabteilung der Charité müssen die Patienten am vergangenen Donnerstag etwas länger warten, bis sie zum Professor vorgelassen werden. Denn hinter den Türen herrscht große Ratlosigkeit und noch größere Empörung. Zeit für Patienten bleibt da erst einmal nicht.

Das, was gerade passiere, sei „wie ein Panzer, der durch ein Orchideen-Beet rollt und dort dann noch einmal wendet“, sagt Professor Christian Witt, Lungenspezialist und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP). Jahrelange Forschungsarbeit werde da niedergewalzt.

Feinstaub-Streit: Diese drei Dinge muss man jetzt wissen

weitere Videos

    Am Tag zuvor hatten Lungenspezialisten eine Stellungnahme veröffentlicht, die den gesundheitlichen Nutzen der aktuellen Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide bezweifelt.

    Bundesregierung will neue wissenschaftliche Betrachtung

    Das Papier hat eine heftige Diskussion zwischen medizinischen Experten, Umweltverbänden und der Politik über Sinn und Unsinn der Grenzwerte ausgelöst. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Montag, die Bundesregierung strebe angesichts der gegensätzlichen Wortmeldungen nun eine wissenschaftliche Klärung an.

    Die verschiedenen Erklärungen würden nun zum Anlass genommen, darüber nachzudenken, wie man eine fundierte gemeinschaftliche Position herstellen könne, so Seibert. Darüber werde derzeit mit der Leopoldina als Nationaler Akademie der Wissenschaften gesprochen.

    Witt: Diskussion sei beschämend für Lungenärzte

    Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) kritisierte am Montag, dass in den letzten Tagen viele Fakten verdreht worden seien. Verunsicherung dürfe aber nicht die Basis für verantwortungsvolle Politik sein. „Grenzwerte sind eine gesellschaftliche Garantie für saubere Luft“, sagte die Ministerin. „Ich sehe keinen Anlass, das abzuschwächen.“

    Lungenspezialist Witt kennt viele der Unterzeichner der umstrittenen Stellungnahme gut, noch besser kennt er den Initiator des Schreibens: Professor Dieter Köhler, Lungenarzt im Ruhestand und spätestens seit vergangenem Donnerstag Anwalt derjenigen, die Grenzwerte für Stickoxide schon immer für eine Schikane der Politik ohne wissenschaftliche Grundlage halten.

    Witt sagt, er habe Köhler persönlich viel zu verdanken. Er möchte nicht schlecht über den Kollegen sprechen. Aber was gerade geschehe, sei beschämend für den gesamten Berufsstand der Lungenärzte.

    Köhler hat mit der Kritik einen Nerv getroffen

    Witts Stellvertreterin auf der Station sagt, am meisten empöre sie, wie jemand mit einem Handstreich die jahrelange Forschungsarbeit so vieler Wissenschaftler einfach so wegwische. Die Gesellschaft der Lungenärzte hat eine eigene Pressestelle zu dem Thema eingerichtet, um der Anfragen Herr zu werden und den richtigen Ton zu finden.

    Denn Witt und seine Kollegen spüren: Dieter Köhler trifft mit seiner Kritik einen Nerv, seine Worte sind kaum mehr einzufangen. Er spricht vielen Menschen aus dem Herzen. So sammelten sich am Wochenende in Stuttgart mehr als tausend Demonstranten, um gegen die Diesel-Fahrverbote in der Stadt zu protestieren.

    Verkehrsminister Scheuer begrüßt Vorstoß der Lungenärzte

    Auch die Politik reagierte umgehend. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sprach nach Veröffentlichung der Stellungnahme von einem überfälligen „Schritt hin zu mehr Sachlichkeit“ und kündigte jetzt an, die Initiative der Ärzte zum Thema im nächsten EU-Verkehrsministerrat zu machen.

    „Der Aufruf der Lungenärzte muss dazu führen, dass die Umsetzung der Grenzwerte hinterfragt und gegebenenfalls verändert wird“, sagte Scheuer der „Bild am Sonntag“ (Bezahlinhalt).

    Grüne kritisieren Scheuer

    Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter warf Scheuer daraufhin ein „problematisches Rechtsstaatsverständnis“ vor. Der Großteil der Wissenschaftler und Lungenärzte sei sich einig, dass Stickoxide schädlich seien, sagte Hofreiter unserer Redaktion. „Auf Basis dieser wissenschaftlichen Untersuchungen wurden Gesetze gemacht, an die sich auch ein Verkehrsminister halten muss.“ Doch Scheuer halte stattdessen „seine Hand schützend über die fossile Autoindustrie“.

    Zuvor hatten bereits die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt und die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock Scheuer kritisiert.

    Umweltministerin Schulze warnt Scheuer

    Auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) warnte Scheuer davor, die Bürger in die Irre zu führen. Es spreche „nichts dafür, dass es hier tatsächlich neue Erkenntnisse gibt“, sagte Schulze unserer Redaktion. „Ich bin dagegen, den Leuten zu suggerieren, dass sich daraus jetzt Änderungen ergeben in der gegenwärtigen Gesetzgebung und Rechtsprechung.“

    Tatsächlich legte Dieter Köhler in seiner Stellungnahme keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse vor, die zeigen, dass Schadstoffe wie Stickoxid der Gesundheit nicht schaden. Er bestreitet lediglich die bestehenden Erkenntnisse.

    Die sind jedoch aus Sicht der meisten Wissenschaftler eindeutig. So heißt es in der offiziellen Stellungnahme der DGP, die bereits im November veröffentlicht worden war: Studien zeigen, dass Feinstaub, Stickoxide und andere Schmutzpartikel nicht nur der Lunge schaden – auch für Herzinfarkt und Schlaganfall, Diabetes Typ 2 und Schwangerschaftsdiabetes, Demenz und weitere Erkrankungen haben Wissenschaftler einen Zusammenhang mit Luftschadstoffen entdeckt.

    Hoher Wert für Stickoxid gilt als Symbol für schlechte Luft

    Auch das „International Forum of Respiratory Societies“, ein weltweiter Zusammenschluss der führenden Gesellschaften für Lungengesundheit mit mehr als 70.000 Mitgliedern, wehrt sich nun in einem Schreiben, aus dem die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zitiert, gegen die Äußerungen der Grenzwertkritiker um Köhler. Schädliche Auswirkungen bestünden sogar unterhalb der derzeitigen Grenzwerte, schreiben die Autoren.

    Und laut einer Umfrage des Bundesverbands der Lungenärzte sehen mehr als drei Viertel der antwortenden Mitglieder in Stickoxiden einen Referenzwert für schlechte Luft, der stellvertretend auch für die übrigen, oft wesentlich gefährlicheren Schadstoffe stehe. Doch ob diese Stimmen in der Debatte Gehör finden, ist ungewiss. Dieter Köhler jedenfalls hat eine Einladung ins EU-Parlament erhalten.