Schwante. Die SPD hat es 30 Jahre nach der Wende mit vielen enttäuschten Ostdeutschen und der AfD zu tun. In diesem Wahljahr droht eine Zäsur.

Nichts regt sich am alten Pfarrhaus. Zwei der sechs Rollläden sind heruntergelassen. Das große Hoftor schmückt ein Graffito mit bunten Blumen, Sonnenuntergang und Maiskolben. Auf der Wiese vor dem gelb verklinkerten Haus trauert eine holzgeschnitzte Mutter auf einem Denkmal stumm für die Opfer beider Weltkriege und mahnt zu Frieden.

Am 7. Oktober 1989 war in Schwante mehr los. Damals trafen sich mehr als 40 Frauen und Männer unter dem Siegel der Verschwiegenheit in dem Anwesen an der Dorfstraße, um in den gefährlichen Wirren der untergehenden DDR der Stasi ein Schnippchen zu schlagen und Historisches zu vollbringen.

Illegale Gründung einer Untergrundpartei

Markus Meckel war dabei. Der Pastor und Bürgerrechtler, der für ein paar Monate in der einzigen frei gewählten Regierung der DDR Außenminister wurde, erinnert sich, wie heftig damals sein Herz klopfte. „Wir haben illegal eine Untergrundpartei gegründet. Da mussten wir jeden Moment damit rechnen, dass es aufgelöst wird und wir verhaftet werden.“

Zumal einer der Mitgründer und später kurzzeitiger SPD-Vorsitzender in der DDR, Ibrahim Böhme, ein Stasi-Spitzel war, wie sich herausstellten sollte.

Für diesen Fall war die Gründungsurkunde bereits einige Tage zuvor unterschrieben und versteckt worden. Hätte die Stasi zugeschlagen, die Gründung der SDP, der ostdeutschen Sozialdemokratie, hätten die DDR-Oberen nicht mehr verhindern können. Die Ostdeutschen übrigens erfuhren erst am 8. Oktober 1989, was da in Schwante passiert war – aus dem Westfernsehen. Die ARD-„Tagesschau“ berichtete von der Parteigründung.

Weder Merkel noch die SPD sahen den Osten als Chefsache

An diesem Freitag sind wieder viele Sozialdemokraten nach Schwante gekommen. Die Spitzen der ostdeutschen SPD bereiteten sich in einer Klausur im alten Schloss unweit des Pfarrhauses auf das brutal schwierige Wahljahr vor. Nach der Wende eilte die SPD im Osten von Erfolg zu Erfolg, auch wenn die ersten gesamtdeutschen Wahlen die CDU mit Helmut Kohl an der Spitze gegen die zögerliche SPD von Oskar Lafontaine gewann. 2019 droht für die ostdeutsche SPD eine Zäsur zu werden.

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    In Brandenburg könnte Ministerpräsident Dietmar Woidke aus dem Amt gefegt werden. In Thüringen und in Sachsen könnte es den Sozialdemokraten wie zuletzt in Bayern ergehen – nur noch einstellig zu sein, während die AfD sich bei den drei Wahlen beste Chancen ausrechnet. In Teilen des Ostens simuliert die SPD nur noch, eine Volkspartei zu sein.

    Mauerfall jährt sich am 9. November zum 30. Mal

    Kapitulieren gilt nicht. Auch deshalb haben die ostdeutschen Genossen Schwante ausgewählt. Sie wollen etwas von jenem Geist mitnehmen, der 1989 durch das kleine Brandenburger Dorf rund 50 Kilometer nördlich von Berlin wehte. Manuela Schwesig ist das erste Mal hier. Sie kannte das Pfarrhaus nur von Fotos. Ihr imponiert der Mut, den die Gründer damals aufbrachten. Es sei ja unklar gewesen, wie die Unternehmung ausgeht. „Ob es in Freiheit endet oder im Stasi-Knast.“

    Es ging gut. Wie gut die Wende und die Segnungen des Kapitalismus für die Bürger der ehemaligen DDR unter dem Strich waren, darüber wird zum Auftakt eines Jahres, in dem sich der Mauerfall am 9. November zum 30. Mal jährt, hitzig diskutiert. Der Januar ist noch nicht vorbei, und es beschleicht einen das Gefühl, dass die Ostdeutschen kollektiv auf die Couch gelegt werden, um ihnen hinter die Stirn zu schauen: Warum seid ihr unzufrieden und wählt AfD, was war da in Chemnitz los, was haben wir aus dem Westen falsch gemacht? Den Anfang machte niemand Geringeres als Angela Merkel.

    Merkel wurde unter Kohl Umweltministerin

    Die in Hamburg geborene, aber in der DDR aufgewachsene Kanzlerin blickte in einem „Zeit“-Interview so offen und schonungslos wie selten zuvor auf die Verhältnisse in Ostdeutschland. Drei Jahrzehnte Mauerfall, das nahende historische Datum löse in den Menschen etwas aus. „30 Jahre später kommen die Fragen noch einmal zurück: Was ist damals eigentlich passiert?“, sinniert die Kanzlerin. Die Wende sei für viele ein Bruch gewesen, manche litten darunter bis heute, denn „in ihrer Biografie ist dieser Bruch nicht so positiv besetzt wie bei mir“.

    Wo andere nach dem DDR-Ende in Arbeits- und Perspektivlosigkeit stürzten, aus dem Westen importierte Treuhand-Manager mit dem unerbittlichen Rechenschieber unzählige DDR-Betriebe dichtmachten, wurde die Physikerin Merkel unter Kohl Umweltministerin, dann CDU-Generalsekretärin, seit 2005 ist sie Kanzlerin, ob sie vor 2021 aufhört, wird sich zeigen. Merkel, die im Osten viel härter als im Westen für ihre Entscheidung von 2015, Tausende Flüchtlinge aufzunehmen, angegangen wird, gibt zu, dass auch sie den Frust der Ostdeutschen unterschätzt hat: „Das Land war vielleicht nie so versöhnt, wie man dachte.“

    In Strategiepapier räumen die SPD-Spitzen das Manko ein

    Manuela Schwesig (SPD), stellvertretende Parteivorsitzende.
    Manuela Schwesig (SPD), stellvertretende Parteivorsitzende. © dpa | Bernd Settnik

    Dieses unpersönlich-distanzierte „man“ stört Manuela Schwesig. Sie habe mit großem Interesse das Interview von Frau Merkel gelesen. „Ich bin überrascht, dass sie das jetzt erst nach 13 Jahren Regierungszeit thematisiert und die Dinge im Osten nicht eher in Ordnung gebracht hat“, sagt die SPD-Politikerin unserer Redaktion. Markus Meckel wird noch deutlicher: „Frau Merkel hat den Osten verkauft, um Kanzlerin zu werden.“ Hätte sie ihre ostdeutsche Biografie offensiv eingebracht, wäre sie nie Kanzlerkandidatin der Union geworden, glaubt Meckel. Aber auch mit der eigenen Partei geht er hart ins Gericht.

    Auch die SPD habe viel zu wenig für den Osten getan, es zugelassen, dass alle wichtigen Posten mit West-Importen besetzt worden seien. „Die SPD war und ist eine West-Partei“, sagt Meckel. Ihm ist wichtig, dass bei Treffen wie in Schwante die Wendezeit aufgearbeitet wird, um daraus zu lernen. In einem Strategiepapier räumen die SPD-Spitzen das Manko ein: „Zu häufig herrscht in der Bundespolitik und auch in der SPD ein „Westblick“. Spezifische ostdeutsche Bedingungen und Bedürfnisse werden oft zu wenig mitgedacht.“

    Rezept gegen den Niedergang soll gefunden werden

    Für die SPD geht es ans Eingemachte. Schwesig, der sächsische Landeschef und Ostbeauftragte der Partei, Martin Dulig, Europa-Spitzenkandidatin Katarina Barley und viele weitere sind nach Schwante gekommen, um ein Rezept gegen den Niedergang zu finden. Es könnte so aussehen: mit einem starken Sozialstaat, der in Infrastruktur, in Schulen und Unis investiert, das Signal zu senden, den Ostdeutschen ein Stück weit ihren Stolz wiederzugeben.

    Im Westen dafür zu werben, dass es da viel mehr gibt als Ostalgie und verwahrloste Seelen. Denn der Befund der Kanzlerin, dass man bei Ost-West-Angleichung mental schon mal weiter war, dürfte in der Ost-SPD jeder unterschreiben. „Was ist die weitverbreitete Lebenserfahrung 30 Jahre nach der Wende? Die Ostdeutschen arbeiten länger für weniger Geld. Das ist ungerecht. Die Menschen dürfen nicht das Gefühl haben, Bürger zweiter Klasse zu sein“, sagt Schwesig.

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    Schnellere Angleichung der Ostrenten an das Westniveau

    Große Hoffnung setzt sie in die geplante Grundrente von Parteifreund und Arbeitsminister Hubertus Heil. Wer 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat, im Alter aber trotzdem auf Hartz IV angewiesen ist, soll einen Zehn-Prozent-Aufschlag erhalten, um aus der Grundsicherung zu kommen. Um die 100 Euro im Monat könnten das für etwa 150.000 Betroffene sein.

    „Mit der Grundrente werden wir gerade vielen Ostdeutschen mit gebrochenen Erwerbsbiografien helfen, damit sie im Alter mehr Geld haben. Das ist ein wichtiger Beitrag für die soziale Einheit und den sozialen Frieden im Land“, glaubt Schwesig.

    Sie macht sich auch für eine schnellere Angleichung der Ostrenten an das Westniveau stark. Bislang will die Bundesregierung das stufenweise bis zum Jahr 2025 erreichen. Ob CDU und CSU da mitspielen, ist fraglich.

    Aber reicht es für die SPD, mit Blaulicht durch abgehängte ostdeutsche Regionen zu düsen und sozialen Wohltaten zu versuchen, das Ärgste zu verhindern? Und was ist mit Westdeutschen, die in Kommunen leben, wo alles kaputt ist? Wird da im Wahljahr, wo alle Parteien die Ostdeutschen umgarnen, das Fundament für eine weitere gesamtdeutsche Neiddebatte gelegt?

    Bund sollte neuen Solidarpakt für strukturschwache Regionen auflegen

    Schwesig sieht das anders. Die Ostdeutschen stünden nicht in der Jammerecke. „Wir sind stolz darauf, was seit 1989 erreicht worden ist, vor allem durch unsere Elterngeneration nach der Wende. Aber jetzt muss noch mehr passieren.“ So sei völlig inakzeptabel, dass der Pflege-Mindestlohn in Ost und West unterschiedlich hoch sei.

    Um die Lebensverhältnisse rascher anzugleichen, sollte der Bund einen neuen Solidarpakt für strukturschwache Regionen auflegen. „Die Politik darf die ländlichen Räume nicht vergessen“, mahnt Schwesig. Aber was kann Politik tun, damit sich Ost und West gefühlt näherkommen, das Verständnis füreinander wächst?

    „Ich fände es gut, wenn es am 9. November Volksfeste entlang der früheren innerdeutschen Grenze gibt, so wie vor 30 Jahren beim Mauerfall“, schlägt Schwesig vor. Millionen erinnerten sich an dieses einzigartige Glücksgefühl, als die Grenzen plötzlich offen waren und wie es war, das erste Mal mit dem Trabi in die Freiheit zu fahren.