Berlin. Nach dem historisch schlechten Ergebnis in Hessen drohen der SPD schwere Turbulenzen. Auch der CDU stehen jetzt unruhige Tage bevor.

Es ist schon wieder schlimm gekommen für die SPD. Als Parteichefin Andrea Nahles am Abend im Willy-Brandt-Haus in knappen, ernsten Worten das Wahlergebnis kommentiert, ist ihr der Druck anzumerken, unter dem sie jetzt steht. Kein Rückenwind aus Berlin, bittere Niederlage – so beschreibt sie das Debakel. Auf eine Wahlparty haben die Genossen lieber gleich verzichtet, das macht die Szenerie noch trostloser.

Doch Nahles lässt es nicht bei der düsteren Situationsbeschreibung. Sichtbar gezeichnet von der Schlappe, geht sie in die Offensive: „Es muss sich in der SPD etwas ändern“, sagt sie. Die SPD müsse klarmachen, wofür sie stehe. Außerdem sei „der Zustand der Regierung nicht akzeptabel“. Die SPD wolle ihr Schicksal nicht in die Hände des Koalitionspartners legen: „Wir bestehen auf einem verbindlichen Fahrplan.“

Nahles kämpft, sie weiß, wie gefährlich die Situation ist. Die SPD-Spitze ist entsetzt, die Parteibasis verzweifelt – und wütend auf die Führungsriege in Berlin. Nichts scheint mehr ausgeschlossen: auch nicht ein Bruch der Koalition in Berlin oder ein Sturz der Vorsitzenden. Vier Optionen hat die SPD jetzt. Wohin wird sie steuern?

Ausstieg aus der Koalition: Ein schnelles Ende der ungeliebten großen Koalition würde zwar der Stimmung vieler Mitglieder entsprechen, ist aber kurzfristig unwahrscheinlich. Nahles hat angesichts des drohenden Dammbruchs in der SPD kurz vor dem Wahlsonntag rhetorisch Sandsäcke aufgestapelt: Die SPD dürfte nicht übereilt und kopflos reagieren, mahnt sie.

Sichtlich angeschlagen: SPD-Chefin Andrea Nahles am Wahlabend.
Sichtlich angeschlagen: SPD-Chefin Andrea Nahles am Wahlabend. © Getty Images | Sean Gallup

Die Ministerriege und die Bundestagsfraktion hat Nahles hinter sich. Denn wenn die SPD die Koalition verlässt, könnte es schnell Neuwahlen geben – bei den aktuellen Umfragewerten würden 30 bis 40 der 150 SPD-Bundestagsabgeordneten ihr Mandat verlieren. Eigentlich hat die SPD auch gar kein Geld für einen neuen Wahlkampf. Parteistrategen ist außerdem klar: Für einen Koalitionsbruch braucht es eine überzeugende Begründung – zwei desaströse Landtagswahlniederlagen reichen kaum.

Doch solche Einwände überzeugen viele Genossen nicht mehr. Ein „Weiter so in der GroKo“ führe zum Untergang der SPD, warnen Parteilinke. Die Verzweiflung erfasst längst auch das Führungspersonal. Die Partei befinde sich in einem „desolaten Zustand“, sagte am Wochenende der Ost-Beauftragte der Partei, Martin Dulig. Sie sei seit Langem nicht mehr in der Lage, Wähler zu überzeugen, verliere an Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Nicht nur Dulig, der als sächsischer SPD-Chef nächstes Jahr Landtagswahlen zu bestehen hat, ist alarmiert.

In Hessen besteht noch weniger als in Bayern kein Zweifel, dass die Niederlage in erster Linie auf das Konto der Bundes-SPD geht. Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel hat nach verbreiteter Einschätzung der Genossen einen guten Wahlkampf hingelegt – aber gegen die Koalitionsstolpereien hatte er keine Chance. Das ist anderen Landesverbänden eine Warnung. Schon gibt es Forderungen nach einem Sonderparteitag, etwa von der designierten SPD-Chefin Schleswig-Holsteins, Serpil Midyatli. Die Parteivorsitzende kennt die Stimmung. Aber meint sie noch das Gleiche wie viele an der Basis?

Schäfer-Gümbel: Ein schwerer und bitterer Abend für die hessische SPD

weitere Videos

    Harte Kante in der Koalition: Das ist die Strategie von Nahles und von Vizekanzler Olaf Scholz. Bei der Vorstandsklausur am kommenden Wochenende dürfte die SPD-Spitze einen neuen Forderungskatalog für die Koalition aufstellen – der soll es mit scharfen roten Linien in sich haben, könnte im Zweifel später auch die Begründung für einen Koalitionsbruch liefern.

    Erst mal will Nahles darauf pochen, dass vereinbarte Gesetzesvorhaben bis Weihnachten auch wirklich umgesetzt werden – Renten-Paket, bessere Kita-Qualität, Pflege, Bundesgeld für Schulen und Kitas. Insgesamt soll die Koalition nun auch verbindliche Zeitpläne aufstellen – daran will Nahles später das Bündnis messen. Es werde „intensive Diskussionen“ in der Koalition geben, kündigt Generalsekretär Lars Klingbeil an.

    Aber bislang ist kein Thema in Sicht, das für breite Wählerschichten nachvollziehbar einen Ausstieg aus der Regierung rechtfertigen würde. Unabhängig von Sachthemen steht Nahles unter Druck, den Genossen zu beweisen, dass sie sich nicht länger von der Union vorführen lässt – wie zuletzt beim Abgang des Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen. Für den SPD-Kurs in der Koalition heißt das: Wenn schon nicht raus, dann rauer.

    Sturz der Parteispitze: Die Geduld mit der Vorsitzenden Nahles ist bei vielen zu Ende. Die versprochene Erneuerung der SPD ist sie bislang schuldig geblieben – neu ist vor allem das Tempo. Aber es drängt jetzt niemand nach vorn, zu schlecht ist gegenwärtig die Ausgangslage. „Der nächste Führungswechsel ist der allerletzte Schuss – er muss sehr sorgfältig vorbereitet sein und im richtigen Moment kommen“, heißt es in Führungskreisen.

    Vorerst müsste Nahles wohl schon von sich aus entnervt hinwerfen. Im Fall der Fälle dürfte Vizekanzler Olaf Scholz seinen Hut in den Ring werfen – aber dessen Beliebtheit in der Partei ist nicht größer als die von Nahles. Ein Neuanfang wäre ein SPD-Chef Scholz sicher nicht. Unter den SPD-Ministerpräsidenten hat Niedersachsens Regierungschef Stephan Weil schon abgewinkt. Parteivize Manuela Schwesig, die seit gut einem Jahr in Mecklenburg-Vorpommern regiert, würde gern noch warten, bis sie nach dem Parteivorsitz greift. Für alle potenziellen, zögerlichen Kandidaten gilt indes: Womöglich ändert sich bald die Ausgangslage – dann nämlich, wenn die Kanzlerin abtritt.

    Warten auf Merkels Abschied: Die heimliche Hoffnung führender Sozialdemokraten ist noch immer ein rascher Abgang von Angela Merkel – erst als CDU-Chefin, dann auch als Kanzlerin. Ohne Merkel ergäben sich aus Sicht der Genossen ganz neue Optionen: Will die Union nach Merkels Rückzug das Kanzleramt neu besetzen, könnte die SPD neue Bedingungen für die Fortsetzung der Koalition heraushandeln – oder ­ohne Gesichtsverlust die Regierung beenden. Eine Fortsetzung der Koalition sei dann kein Automatismus, heißt es in der Parteispitze.

    Im Willy-Brandt-Haus kursierten bisher Szenarien, nach denen Merkels Abschied für 2019 zu erwarten wäre und dann womöglich auch das ­Ende der Koalition käme, mindestens aber neue Profilierungschancen. Gegen eine CDU-Kanzlerkandidatin Annegret Kramp-Karrenbauer oder einen Kanzlerkandidaten Jens Spahn rechnen sich die Genossen bessere Chancen aus. Eigentlich ist es die Hoffnung, an die sich die SPD schon seit einem halben Jahrzehnt klammert: Überwintern als Juniorpartner in der Regierung, bis Merkel geht. Nie waren die Genossen dem Ziel näher als jetzt. Die Frage ist: Erreichen sie noch das rettende Ufer?