Brüssel. Die Nato übt mit „Trident Juncture“ den Ernstfall eines russischen Angriffes auf Europa. Trotz aller Übung bleibt aber eine Gefahr.

Auch wenn sich die russische Regierung jetzt routinemäßig beschwert: Die Berichte vom großen Nato-Manöver in Norwegen werden die Militärführung in Moskau sicher nicht in Angst und Schrecken versetzen. Beunruhigen wird sich angesichts der Bilder von dröhnenden Kampfpanzern und Jagdbombern im Tiefflug vermutlich eher mancher Zeitzeuge in Westeuropa: Müssen wir uns etwa wie in Zeiten des Ost-West-Konflikts wieder auf die Gefahr eines Kriegs vorbereiten?

Nein, wohl kaum, jedenfalls nicht auf eine Auseinandersetzung mit konventionellen Waffen, die jetzt im Norden geübt wird. Nicht zum ersten Mal übrigens: Das Szenario eines Angriffs auf Norwegen wurde schon mal groß mit 25.000 Soldaten durchgespielt.

Das war 2002, als alle Zeichen auf Entspannung deuteten. Auch heute sieht die große Mehrheit der Militärexperten innerhalb und außerhalb der Nato keine Anzeichen dafür, dass Russland ernsthaft das Abenteuer eines Angriffs auf ein Nato-Mitglied wagen würde; ein solcher Krieg wäre für Moskau nicht zu gewinnen.

Nato muss sich auf Kernaufgabe besinnen

Voraussetzung dafür aber ist, dass das westliche Bündnis wehrhaft bleibt – und sich auf die Bemühungen der russischen Politik einstellt, die geopolitischen Kräfteverhältnisse zu revidieren und Einflusszonen zurückzugewinnen. Es geht nicht allein um die Übergriffe auf die Krim und die Ost-Ukraine. Russland rüstet ganz offen auf, nicht nur nuklear und konventionell: Der Aufstieg zu einer Cybermacht, die schon in Friedenszeiten westliche Gesellschaften mit Desinformationskampagnen und Hackerangriffen aus der Balance zu bringen versucht, ist mindestens ebenso bedrohlich.

Auch wer zu Recht beklagt, dass der Westen vor Jahren nicht ernsthaft genug eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland zu begründen versuchte, kann die neue Lage nicht ignorieren. Russland fordert den Westen mit vielen Mitteln heraus. Wer da nicht politisch erpressbar werden will, braucht glaubwürdige Abschreckung.

Die Nato aber, lange auf Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets konzen­triert, muss sich ihrer Abschreckungsfähigkeit erst wieder vergewissern. Defizite liegen auf der Hand. So wären größere Truppen in Europa im Ernstfall nicht schnell genug einsatzbereit. Dabei darf die Nato keinen Zweifel am defensiven Charakter ihrer Bemühungen lassen; bislang ist das gelungen, auch vom Manöver in Norwegen geht kein Bedrohungssignal aus.

Spontane Missverständnisse bleiben eine Bedrohung

Mehr als heikel ist es indes, dass die USA gerade jetzt erklären, sie wollten den INF-Abrüstungsvertrag kündigen. Russland trägt mit der Entwicklung neuer Marschflugkörper eine Mitverantwortung, aber offenkundig spielen atomare Ambitionen Chinas die größere Rolle. Am Ende könnte eine neue Aufrüstungsspirale mit Atomraketen in Europa stehen. Das wäre fatal.

Für Nuklearwaffen gilt noch viel mehr als für die konventionelle Abschreckung: Das Risiko in Europa besteht weniger in einem lange geplanten militärischen Angriff. Gefährlich sind mögliche Missverständnisse zwischen den Militärmächten, eine versehentliche Eskalation, die zum Krieg führen kann. Das Risiko lässt sich nur durch gegenseitiges Vertrauen mindern.

Doch daran fehlt es. Im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen hat sich eisiges Misstrauen festgesetzt. Die Nato-Partner sind gefordert: Sie müssen energischer den Dialog mit Moskau suchen. Die Demonstration militärischer Stärke allein genügt nicht – Abschreckung muss einhergehen mit ernsthaften Angeboten zur Vertrauensbildung. Auch hier muss der Westen mehr leisten.